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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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ohne Veröffentlichung der Protocolle, und wie die hundert Clauseln
heißen, die eine Constitution zu einem Titel ohne Mittel machen --
was wäre damit gewonnen? Gewonnen? Es wäre der fürchterlichste
Verlust, der Preußen treffen könnte. Denn mit der Proclamirung einer
reichsständischen Verfassung solcher Art, wären alle Vortheile der ge¬
genwärtigen Situation vernichtet. Wahrlich, indem man der Sache
tiefer auf den Grund geht und all' den Dingen nachdenkt, die unsere
Censurgesetze auszusprechen nicht gestatten, muß man es der preußi¬
schen Regierung als einen schönen Zug von ehrlicher Gesinnung
anrechnen, daß sie uicht zu dem jesuitischen Staatsstreiche greift, zu
welchem die kopflose Hälfte der liberalen Presse sie zu provociren
sucht. Wir andern aber, die wir uns über unsere Situation keine
Illusionen machen, wollen zu den Göttern beten, daß uns das
Jahr 1846 mit keiner preußischen Constitution -- überrasche
und beschenke I Der Lebenslauf der Constitutionen in einigen klei¬
nern deutschen Staaten hat über den Werth geschenkter Ver¬
fassungen zur Genüge belehrt, und doch wurden diese zu einer Zeit
ertheilt, die günstiger dem Aufschwünge derselben waren, zu einer
Epoche, wo man an den guten Willen des Verfassungsentwurfs
weniger zu zweifeln Ursache hatte. Die konstitutionellen Fürsten
Deutschlands haben die vortheilhafte Stellung, die ihnen die öffent¬
liche Meinung gegenüber den absoluten Reichen sicherte, entweder
nicht eingesehen oder nicht einsehen wollen, und so hat ein einziges
materielles Ereigniß, ein Zollvcrtrag, der obendrein nicht vollständig
und nicht ein Mal über seine Zukunft gesichert und einig ist, hin¬
gereicht, die Hegemonie einem absoluten Staate zuzuwenden und die
Blicke des gesammten Deutschland auf ihn zu richten. Aber eben
weil nach den gegenwärtigen Verhältnissen die gesammte Zukunft
des Vaterlandes an dem Schicksale und der politischen Entwicke¬
lung Preußens geknüpft ist, zittern wir vor einem geschenkten
Apfel, den man jetzt grün, unreif, unausgcwachsen und Koliken
nach sich ziehend vom hohen Baume herab uns zuwerfen könnte, ,
während er doch ohnstreitig.seiner Reife entgegengeht und von selbst
herabfallen muß.

Muß? Warum und wie so? höre ich mir entgegendoimern.
Gemach ! Es wäre ungeschickt, wenn die liberale Presse von den
vielen Heimlichkeiten die ihre Gegner Jahr aus Jahr ein bei ver-


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ohne Veröffentlichung der Protocolle, und wie die hundert Clauseln
heißen, die eine Constitution zu einem Titel ohne Mittel machen —
was wäre damit gewonnen? Gewonnen? Es wäre der fürchterlichste
Verlust, der Preußen treffen könnte. Denn mit der Proclamirung einer
reichsständischen Verfassung solcher Art, wären alle Vortheile der ge¬
genwärtigen Situation vernichtet. Wahrlich, indem man der Sache
tiefer auf den Grund geht und all' den Dingen nachdenkt, die unsere
Censurgesetze auszusprechen nicht gestatten, muß man es der preußi¬
schen Regierung als einen schönen Zug von ehrlicher Gesinnung
anrechnen, daß sie uicht zu dem jesuitischen Staatsstreiche greift, zu
welchem die kopflose Hälfte der liberalen Presse sie zu provociren
sucht. Wir andern aber, die wir uns über unsere Situation keine
Illusionen machen, wollen zu den Göttern beten, daß uns das
Jahr 1846 mit keiner preußischen Constitution — überrasche
und beschenke I Der Lebenslauf der Constitutionen in einigen klei¬
nern deutschen Staaten hat über den Werth geschenkter Ver¬
fassungen zur Genüge belehrt, und doch wurden diese zu einer Zeit
ertheilt, die günstiger dem Aufschwünge derselben waren, zu einer
Epoche, wo man an den guten Willen des Verfassungsentwurfs
weniger zu zweifeln Ursache hatte. Die konstitutionellen Fürsten
Deutschlands haben die vortheilhafte Stellung, die ihnen die öffent¬
liche Meinung gegenüber den absoluten Reichen sicherte, entweder
nicht eingesehen oder nicht einsehen wollen, und so hat ein einziges
materielles Ereigniß, ein Zollvcrtrag, der obendrein nicht vollständig
und nicht ein Mal über seine Zukunft gesichert und einig ist, hin¬
gereicht, die Hegemonie einem absoluten Staate zuzuwenden und die
Blicke des gesammten Deutschland auf ihn zu richten. Aber eben
weil nach den gegenwärtigen Verhältnissen die gesammte Zukunft
des Vaterlandes an dem Schicksale und der politischen Entwicke¬
lung Preußens geknüpft ist, zittern wir vor einem geschenkten
Apfel, den man jetzt grün, unreif, unausgcwachsen und Koliken
nach sich ziehend vom hohen Baume herab uns zuwerfen könnte, ,
während er doch ohnstreitig.seiner Reife entgegengeht und von selbst
herabfallen muß.

Muß? Warum und wie so? höre ich mir entgegendoimern.
Gemach ! Es wäre ungeschickt, wenn die liberale Presse von den
vielen Heimlichkeiten die ihre Gegner Jahr aus Jahr ein bei ver-


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[0019] ohne Veröffentlichung der Protocolle, und wie die hundert Clauseln heißen, die eine Constitution zu einem Titel ohne Mittel machen — was wäre damit gewonnen? Gewonnen? Es wäre der fürchterlichste Verlust, der Preußen treffen könnte. Denn mit der Proclamirung einer reichsständischen Verfassung solcher Art, wären alle Vortheile der ge¬ genwärtigen Situation vernichtet. Wahrlich, indem man der Sache tiefer auf den Grund geht und all' den Dingen nachdenkt, die unsere Censurgesetze auszusprechen nicht gestatten, muß man es der preußi¬ schen Regierung als einen schönen Zug von ehrlicher Gesinnung anrechnen, daß sie uicht zu dem jesuitischen Staatsstreiche greift, zu welchem die kopflose Hälfte der liberalen Presse sie zu provociren sucht. Wir andern aber, die wir uns über unsere Situation keine Illusionen machen, wollen zu den Göttern beten, daß uns das Jahr 1846 mit keiner preußischen Constitution — überrasche und beschenke I Der Lebenslauf der Constitutionen in einigen klei¬ nern deutschen Staaten hat über den Werth geschenkter Ver¬ fassungen zur Genüge belehrt, und doch wurden diese zu einer Zeit ertheilt, die günstiger dem Aufschwünge derselben waren, zu einer Epoche, wo man an den guten Willen des Verfassungsentwurfs weniger zu zweifeln Ursache hatte. Die konstitutionellen Fürsten Deutschlands haben die vortheilhafte Stellung, die ihnen die öffent¬ liche Meinung gegenüber den absoluten Reichen sicherte, entweder nicht eingesehen oder nicht einsehen wollen, und so hat ein einziges materielles Ereigniß, ein Zollvcrtrag, der obendrein nicht vollständig und nicht ein Mal über seine Zukunft gesichert und einig ist, hin¬ gereicht, die Hegemonie einem absoluten Staate zuzuwenden und die Blicke des gesammten Deutschland auf ihn zu richten. Aber eben weil nach den gegenwärtigen Verhältnissen die gesammte Zukunft des Vaterlandes an dem Schicksale und der politischen Entwicke¬ lung Preußens geknüpft ist, zittern wir vor einem geschenkten Apfel, den man jetzt grün, unreif, unausgcwachsen und Koliken nach sich ziehend vom hohen Baume herab uns zuwerfen könnte, , während er doch ohnstreitig.seiner Reife entgegengeht und von selbst herabfallen muß. Muß? Warum und wie so? höre ich mir entgegendoimern. Gemach ! Es wäre ungeschickt, wenn die liberale Presse von den vielen Heimlichkeiten die ihre Gegner Jahr aus Jahr ein bei ver- 2-«-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/19>, abgerufen am 15.05.2024.