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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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tergötter übergegangen find? Welche enttäuschende, gräßliche Ver¬
körperung erhabener Herrschenden! Wo ist da die Huld und lie¬
benswürdige Menschlichkeit in den Zwecken, wo ist die Hoheit,
die Seelengröße, die Männlichkeit in den Mitteln? Ist es das
abstrakte "russische Wesen," welches, unabhängig vom persönlichen
Willen des Kaisers regiert und dem Abendlande wie ein Medusen-
Haupt entgcgenstarrt? Ist der Autokrat, zum Hohn aller Selbstherr¬
schertheorien, nur ein Sklave dieses russischen Wesens? Aber Ni¬
kolaus soll sich ja gerade durch den Eigenwillen und die klare un¬
abwendbare Festigkeit seines Handelns von andern Monarchen un¬
terscheiden. Er hat das russische Wesen nicht geschaffen, aber, im
Gegensatz zu seinem Vorgänger, neu belebt, und zum herrschenden
nationalen Princip gemacht.

Rußland bietet in diesem Augenblick ein Schauspiel, welches
man schon gewohnt war, nur in der Geschichte alter, glücklich
überwundener Zeiten zu suchen; ein Schauspiel, welches den Glau¬
ben an Herrschaft der Moral in den Kabinetten, an christliche Po¬
litik und christliche Staaten grausam Lügen straft. Es ist genug,
wenn man den christlichen Principien negative Opfer bringt, und
Nichts mehr nimmt, da wo Nichts mehr zu nehmen ist. Moral
und Humanität müssen gelten, -- so viel sie sich mit den Interessen
der Politik vertragen. Und was die solidarische Verpflichtung der
Cabinette für die Herrschaft jener Principien in Europa betrifft, so
haben wir die elastische Theorie der Intervention und Nichtintcrvcn-
tion; es versteht sich von selbst, daß man im Namen der christlichen Po¬
litik gegen die Schwachen intervenirt und im Interesse der höheren Po¬
litik gegen die Starken es bleiben läßt. Wenn sich ein ohnmächtiger
schweizer Kanton gegen eingeschmuggelte Jesuiten empört, da rücken
die Heere an die Grenzen, da drohen Kanonen und Bajonette; die ge¬
setzliche Ruhe, die religiöse Ordnung ist in Gefahr. Wenn dagegen
ein Fürst die Verfassung umstürzt und giltige Verträge dem Volke
zerrissen ins Gesicht wirft, soll man da intervenircn? Soll man
durch Gewaltschritte den Frieden Europas aufs Spiel setzen? Dazu
ist es Zeit, wenn das Volk es wagen sollte, sich selber Recht zu
schaffen. Wo ein Ruf ertönt nach bürgerlichen Rechten, von denen
weder Luther noch ein Papst gewußt hat, wo sich das Schreckliche
begiebt, daß ein Professor eine Rede halten, oder ein Jud' in eine


tergötter übergegangen find? Welche enttäuschende, gräßliche Ver¬
körperung erhabener Herrschenden! Wo ist da die Huld und lie¬
benswürdige Menschlichkeit in den Zwecken, wo ist die Hoheit,
die Seelengröße, die Männlichkeit in den Mitteln? Ist es das
abstrakte „russische Wesen," welches, unabhängig vom persönlichen
Willen des Kaisers regiert und dem Abendlande wie ein Medusen-
Haupt entgcgenstarrt? Ist der Autokrat, zum Hohn aller Selbstherr¬
schertheorien, nur ein Sklave dieses russischen Wesens? Aber Ni¬
kolaus soll sich ja gerade durch den Eigenwillen und die klare un¬
abwendbare Festigkeit seines Handelns von andern Monarchen un¬
terscheiden. Er hat das russische Wesen nicht geschaffen, aber, im
Gegensatz zu seinem Vorgänger, neu belebt, und zum herrschenden
nationalen Princip gemacht.

Rußland bietet in diesem Augenblick ein Schauspiel, welches
man schon gewohnt war, nur in der Geschichte alter, glücklich
überwundener Zeiten zu suchen; ein Schauspiel, welches den Glau¬
ben an Herrschaft der Moral in den Kabinetten, an christliche Po¬
litik und christliche Staaten grausam Lügen straft. Es ist genug,
wenn man den christlichen Principien negative Opfer bringt, und
Nichts mehr nimmt, da wo Nichts mehr zu nehmen ist. Moral
und Humanität müssen gelten, — so viel sie sich mit den Interessen
der Politik vertragen. Und was die solidarische Verpflichtung der
Cabinette für die Herrschaft jener Principien in Europa betrifft, so
haben wir die elastische Theorie der Intervention und Nichtintcrvcn-
tion; es versteht sich von selbst, daß man im Namen der christlichen Po¬
litik gegen die Schwachen intervenirt und im Interesse der höheren Po¬
litik gegen die Starken es bleiben läßt. Wenn sich ein ohnmächtiger
schweizer Kanton gegen eingeschmuggelte Jesuiten empört, da rücken
die Heere an die Grenzen, da drohen Kanonen und Bajonette; die ge¬
setzliche Ruhe, die religiöse Ordnung ist in Gefahr. Wenn dagegen
ein Fürst die Verfassung umstürzt und giltige Verträge dem Volke
zerrissen ins Gesicht wirft, soll man da intervenircn? Soll man
durch Gewaltschritte den Frieden Europas aufs Spiel setzen? Dazu
ist es Zeit, wenn das Volk es wagen sollte, sich selber Recht zu
schaffen. Wo ein Ruf ertönt nach bürgerlichen Rechten, von denen
weder Luther noch ein Papst gewußt hat, wo sich das Schreckliche
begiebt, daß ein Professor eine Rede halten, oder ein Jud' in eine


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[0023] tergötter übergegangen find? Welche enttäuschende, gräßliche Ver¬ körperung erhabener Herrschenden! Wo ist da die Huld und lie¬ benswürdige Menschlichkeit in den Zwecken, wo ist die Hoheit, die Seelengröße, die Männlichkeit in den Mitteln? Ist es das abstrakte „russische Wesen," welches, unabhängig vom persönlichen Willen des Kaisers regiert und dem Abendlande wie ein Medusen- Haupt entgcgenstarrt? Ist der Autokrat, zum Hohn aller Selbstherr¬ schertheorien, nur ein Sklave dieses russischen Wesens? Aber Ni¬ kolaus soll sich ja gerade durch den Eigenwillen und die klare un¬ abwendbare Festigkeit seines Handelns von andern Monarchen un¬ terscheiden. Er hat das russische Wesen nicht geschaffen, aber, im Gegensatz zu seinem Vorgänger, neu belebt, und zum herrschenden nationalen Princip gemacht. Rußland bietet in diesem Augenblick ein Schauspiel, welches man schon gewohnt war, nur in der Geschichte alter, glücklich überwundener Zeiten zu suchen; ein Schauspiel, welches den Glau¬ ben an Herrschaft der Moral in den Kabinetten, an christliche Po¬ litik und christliche Staaten grausam Lügen straft. Es ist genug, wenn man den christlichen Principien negative Opfer bringt, und Nichts mehr nimmt, da wo Nichts mehr zu nehmen ist. Moral und Humanität müssen gelten, — so viel sie sich mit den Interessen der Politik vertragen. Und was die solidarische Verpflichtung der Cabinette für die Herrschaft jener Principien in Europa betrifft, so haben wir die elastische Theorie der Intervention und Nichtintcrvcn- tion; es versteht sich von selbst, daß man im Namen der christlichen Po¬ litik gegen die Schwachen intervenirt und im Interesse der höheren Po¬ litik gegen die Starken es bleiben läßt. Wenn sich ein ohnmächtiger schweizer Kanton gegen eingeschmuggelte Jesuiten empört, da rücken die Heere an die Grenzen, da drohen Kanonen und Bajonette; die ge¬ setzliche Ruhe, die religiöse Ordnung ist in Gefahr. Wenn dagegen ein Fürst die Verfassung umstürzt und giltige Verträge dem Volke zerrissen ins Gesicht wirft, soll man da intervenircn? Soll man durch Gewaltschritte den Frieden Europas aufs Spiel setzen? Dazu ist es Zeit, wenn das Volk es wagen sollte, sich selber Recht zu schaffen. Wo ein Ruf ertönt nach bürgerlichen Rechten, von denen weder Luther noch ein Papst gewußt hat, wo sich das Schreckliche begiebt, daß ein Professor eine Rede halten, oder ein Jud' in eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/23>, abgerufen am 15.05.2024.