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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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tonische Völkermustkverwirrung voll zu machen, schloß Lißt mit einer
Fantasie über ungarische Originallieder. Um zwei^Uhr erst ging man
auseinande r. Was Lißt betrifft, so fuhr er auseinander, denn vor Ja-
nins Thüre hatte der extravagante Musikheld den Postwagen bestellt,
in den er sich im Concertanzuge einsetzte, um schnurstracks über Brüs¬
sel "ach Wien zu reisen. In allen Extravaganzen Lißts liegt immer
ein feiner wohlberechneter Aug. Mußte es Zaum nicht ganz beson¬
ders schmeicheln, den Künstler einige Minuten vor der Neise noch in
seinem Salon fantasiren zu hören?

Ich ging vor einigen Tagen durch die in<- 8t. - I^itnai e und
benutzte die Gelegenheit um die vielbesprochene, vor kurzem erst neu
eingerichtete ,,l>6c>>t.>" (Krippe, Christuswiege) zu besehen. In der
That ein schönes Monument der Humanität. Die "Creche" ist eine
Kleinkinderbewahranstalt für Wiegenkinder. In einer Reihe
von geräumigen und luftigen Sälen stehen gegen zweihundert kleine
Betten und Wiegen, wo die Kinder, von denen keins über zwei Jahre
alt ist, waren gebettet und trefflich gefüttert worden, wo Alles rein¬
lich, gesund "ut heiter ist, und wo sie gegen all die Unfälle und Lei¬
den geschützt sind, welche den armen Volksclassen, bereits die Anfänge
des Lebens verkümmern, und die Entwicklung der Kraft ersticken, die
sie später bei der Arbeit zu der sie heranwachsen nöthiger, als jeder
Andere brauchen. Die "Creche" in der nie 8t, - I^-i/arv nimmt nur
Kinder von armen Frauen auf, die außer ihrer Wohnung arbeiten
müssen und sich durch guten Lebenswandel auszeichnen. Die Wärte¬
rinnen sind streng überwacht, aber gut bezahlt und verköstigt. Meist
werden Mütter, deren Säuglinge in der Anstalt selbst sich befinden,
zur Bedienung verwendet, und man kann sich das Glück einer solchen
armen Frau denken, die gestern noch nicht wußte wie sie für sich und
ihr Kind einen Schnitt Brot erarbeiten wird, und heute sammt die¬
sem beherbergt, genährt wird, und obendrein noch 25, Sous, per Tag
"Wiegengeld" erhält. Merkwürdige Beobachtungen kann der Psycho¬
log in der Mitte einer solchen Menge kleiner Geschöpfe machen, die
noch vom Thiere mehr haben als vom Menschen, und bei denen sich
doch schon kleine und entscheidende Charakterzüge, Sympathien und
Abneigungen kund geben. Man zeigte mir unter andern zwei kleine
Wesen die Maria und Gerard getauft sind, die unzertrennlich mit
einander spielen, Alles was man ihnen gibt mit einander theilen, und
ihre kleinen Gedanken sogar einander mitzutheilen verstehen, ohne noch
ein Wort sprechen zu können. Indem ich die Säle dieser menschen¬
freundlichen Anstalt durchlief, dachte ich an unsern gemeinsamen Freund,
den tresslichen Joseph Wertheimcr in'Wien, der unermüdlich im Dienste
der Menschheit, so außerordentliche Verdienste um die Begründung
und Ausdehnung der Kleinkinderbcwahranstalten in jener Stadt sich
erworben. Wäre er doch in diesem Augenblicke an meiner Seite --


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tonische Völkermustkverwirrung voll zu machen, schloß Lißt mit einer
Fantasie über ungarische Originallieder. Um zwei^Uhr erst ging man
auseinande r. Was Lißt betrifft, so fuhr er auseinander, denn vor Ja-
nins Thüre hatte der extravagante Musikheld den Postwagen bestellt,
in den er sich im Concertanzuge einsetzte, um schnurstracks über Brüs¬
sel »ach Wien zu reisen. In allen Extravaganzen Lißts liegt immer
ein feiner wohlberechneter Aug. Mußte es Zaum nicht ganz beson¬
ders schmeicheln, den Künstler einige Minuten vor der Neise noch in
seinem Salon fantasiren zu hören?

Ich ging vor einigen Tagen durch die in<- 8t. - I^itnai e und
benutzte die Gelegenheit um die vielbesprochene, vor kurzem erst neu
eingerichtete ,,l>6c>>t.>" (Krippe, Christuswiege) zu besehen. In der
That ein schönes Monument der Humanität. Die „Creche" ist eine
Kleinkinderbewahranstalt für Wiegenkinder. In einer Reihe
von geräumigen und luftigen Sälen stehen gegen zweihundert kleine
Betten und Wiegen, wo die Kinder, von denen keins über zwei Jahre
alt ist, waren gebettet und trefflich gefüttert worden, wo Alles rein¬
lich, gesund «ut heiter ist, und wo sie gegen all die Unfälle und Lei¬
den geschützt sind, welche den armen Volksclassen, bereits die Anfänge
des Lebens verkümmern, und die Entwicklung der Kraft ersticken, die
sie später bei der Arbeit zu der sie heranwachsen nöthiger, als jeder
Andere brauchen. Die „Creche" in der nie 8t, - I^-i/arv nimmt nur
Kinder von armen Frauen auf, die außer ihrer Wohnung arbeiten
müssen und sich durch guten Lebenswandel auszeichnen. Die Wärte¬
rinnen sind streng überwacht, aber gut bezahlt und verköstigt. Meist
werden Mütter, deren Säuglinge in der Anstalt selbst sich befinden,
zur Bedienung verwendet, und man kann sich das Glück einer solchen
armen Frau denken, die gestern noch nicht wußte wie sie für sich und
ihr Kind einen Schnitt Brot erarbeiten wird, und heute sammt die¬
sem beherbergt, genährt wird, und obendrein noch 25, Sous, per Tag
„Wiegengeld" erhält. Merkwürdige Beobachtungen kann der Psycho¬
log in der Mitte einer solchen Menge kleiner Geschöpfe machen, die
noch vom Thiere mehr haben als vom Menschen, und bei denen sich
doch schon kleine und entscheidende Charakterzüge, Sympathien und
Abneigungen kund geben. Man zeigte mir unter andern zwei kleine
Wesen die Maria und Gerard getauft sind, die unzertrennlich mit
einander spielen, Alles was man ihnen gibt mit einander theilen, und
ihre kleinen Gedanken sogar einander mitzutheilen verstehen, ohne noch
ein Wort sprechen zu können. Indem ich die Säle dieser menschen¬
freundlichen Anstalt durchlief, dachte ich an unsern gemeinsamen Freund,
den tresslichen Joseph Wertheimcr in'Wien, der unermüdlich im Dienste
der Menschheit, so außerordentliche Verdienste um die Begründung
und Ausdehnung der Kleinkinderbcwahranstalten in jener Stadt sich
erworben. Wäre er doch in diesem Augenblicke an meiner Seite —


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[0245] tonische Völkermustkverwirrung voll zu machen, schloß Lißt mit einer Fantasie über ungarische Originallieder. Um zwei^Uhr erst ging man auseinande r. Was Lißt betrifft, so fuhr er auseinander, denn vor Ja- nins Thüre hatte der extravagante Musikheld den Postwagen bestellt, in den er sich im Concertanzuge einsetzte, um schnurstracks über Brüs¬ sel »ach Wien zu reisen. In allen Extravaganzen Lißts liegt immer ein feiner wohlberechneter Aug. Mußte es Zaum nicht ganz beson¬ ders schmeicheln, den Künstler einige Minuten vor der Neise noch in seinem Salon fantasiren zu hören? Ich ging vor einigen Tagen durch die in<- 8t. - I^itnai e und benutzte die Gelegenheit um die vielbesprochene, vor kurzem erst neu eingerichtete ,,l>6c>>t.>" (Krippe, Christuswiege) zu besehen. In der That ein schönes Monument der Humanität. Die „Creche" ist eine Kleinkinderbewahranstalt für Wiegenkinder. In einer Reihe von geräumigen und luftigen Sälen stehen gegen zweihundert kleine Betten und Wiegen, wo die Kinder, von denen keins über zwei Jahre alt ist, waren gebettet und trefflich gefüttert worden, wo Alles rein¬ lich, gesund «ut heiter ist, und wo sie gegen all die Unfälle und Lei¬ den geschützt sind, welche den armen Volksclassen, bereits die Anfänge des Lebens verkümmern, und die Entwicklung der Kraft ersticken, die sie später bei der Arbeit zu der sie heranwachsen nöthiger, als jeder Andere brauchen. Die „Creche" in der nie 8t, - I^-i/arv nimmt nur Kinder von armen Frauen auf, die außer ihrer Wohnung arbeiten müssen und sich durch guten Lebenswandel auszeichnen. Die Wärte¬ rinnen sind streng überwacht, aber gut bezahlt und verköstigt. Meist werden Mütter, deren Säuglinge in der Anstalt selbst sich befinden, zur Bedienung verwendet, und man kann sich das Glück einer solchen armen Frau denken, die gestern noch nicht wußte wie sie für sich und ihr Kind einen Schnitt Brot erarbeiten wird, und heute sammt die¬ sem beherbergt, genährt wird, und obendrein noch 25, Sous, per Tag „Wiegengeld" erhält. Merkwürdige Beobachtungen kann der Psycho¬ log in der Mitte einer solchen Menge kleiner Geschöpfe machen, die noch vom Thiere mehr haben als vom Menschen, und bei denen sich doch schon kleine und entscheidende Charakterzüge, Sympathien und Abneigungen kund geben. Man zeigte mir unter andern zwei kleine Wesen die Maria und Gerard getauft sind, die unzertrennlich mit einander spielen, Alles was man ihnen gibt mit einander theilen, und ihre kleinen Gedanken sogar einander mitzutheilen verstehen, ohne noch ein Wort sprechen zu können. Indem ich die Säle dieser menschen¬ freundlichen Anstalt durchlief, dachte ich an unsern gemeinsamen Freund, den tresslichen Joseph Wertheimcr in'Wien, der unermüdlich im Dienste der Menschheit, so außerordentliche Verdienste um die Begründung und Ausdehnung der Kleinkinderbcwahranstalten in jener Stadt sich erworben. Wäre er doch in diesem Augenblicke an meiner Seite — 29*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/245>, abgerufen am 31.05.2024.