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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Mühe werth, hier eine Weile stehen zu bleiben und zu gaffen. Als
Knabe sah ich in einer alten Chronik, die mit Kupfern verziert war,
ein Gemälde von Tyrus, welches meine Phantasie lange beschäf¬
tigte, und das ich endlich vergaß. Aber hier mußte ich plötzlich
wieder an das alte Kupfer denken. Ein trüber Himmel dämpfte
alle Farben, nur die Themse blitzte manchmal auf in einem flüch¬
tigen Sonnenstrahl. Rechts auf dem linken Ufer erhob sich die
Kuppel von Se. Paul, wie ein dunkles Stück Rom durch nor¬
dischen Nebel blickend; denn Se. Paul ist eine Nachahmung von
Se. Peter, wie die anglikanische Episkopalkirche ein Schattenbild
der katholischen ist. England wollte sein Rom nur im Lande haben:
das ist ja der eigentliche Sinn des hiesigen Protestantismus. Und
links, welches Gewühl von Wimpeln, Essen, Giebeln, Wetterhähnen
und Telegraphen, vom Zollhause bis fern hinab, wo "des Donners
Wolken niederhingen" auf den Tower. Diese Beste, hat sie nicht
einst eine ähnliche Rolle gespielt, hat sie nicht eben so blutige Tha¬
ten gesehen, wie der Moskaner Kreml zu Iwan's und zu Peter's
Zeiten, wie alle Zwingburgen des ritterthümlichen Königthums?
Friedlich und zahm, fast unscheinbar geworden seit dem letzten Brande,
streckt sich der Tower jetzt am linken Ufer hin mit grauen gähnen¬
den Thoren; und bezeichnend genug, liegt er mitten im geräusch¬
vollen Lager des täglichen Verkehrs, von allen Seiten umgeben ihn
Werften und Schiffe, deren Bevölkerung kaum Zeit hat, einen Blick
auf die Burg zu werfen, wo Shakspeare's tragische Könige um¬
gehen. Vielleicht, als hier das Linienschiff mit chinesischem Svcee-
silber neulich vorbeifuhr, stand einer der alten Könige auf den
Zinnen, wie der Geist des Ritters im Göthe'schen Gedicht, der das
"Menschenschifflein" grüßt, und gedachte des Unterschiedes zwischen
Elisabeth's und Victoria's Tagen.

Die Themse ist von majestätischer Breite, wenn man nach der
Länge der Brücke schließt, aber sie erscheint nur schmal, weil der
Mastenwald an beiden Ufern sie verdeckt; wie ein mäßiger, tief
strömender Fluß, der sich durch einen lang hingestreckten Tannen¬
forst Bahn bricht. Aber man fühlt die Gewalt des Meeres ihren
Fluten an. Die Londonbridge ist die erste von Osten aus, liegt
aber doch schon mitten im Innersten der Weltstadt. So wogt denn
die glänzende Straße des Welthandels und trägt die dreimastigen


Mühe werth, hier eine Weile stehen zu bleiben und zu gaffen. Als
Knabe sah ich in einer alten Chronik, die mit Kupfern verziert war,
ein Gemälde von Tyrus, welches meine Phantasie lange beschäf¬
tigte, und das ich endlich vergaß. Aber hier mußte ich plötzlich
wieder an das alte Kupfer denken. Ein trüber Himmel dämpfte
alle Farben, nur die Themse blitzte manchmal auf in einem flüch¬
tigen Sonnenstrahl. Rechts auf dem linken Ufer erhob sich die
Kuppel von Se. Paul, wie ein dunkles Stück Rom durch nor¬
dischen Nebel blickend; denn Se. Paul ist eine Nachahmung von
Se. Peter, wie die anglikanische Episkopalkirche ein Schattenbild
der katholischen ist. England wollte sein Rom nur im Lande haben:
das ist ja der eigentliche Sinn des hiesigen Protestantismus. Und
links, welches Gewühl von Wimpeln, Essen, Giebeln, Wetterhähnen
und Telegraphen, vom Zollhause bis fern hinab, wo „des Donners
Wolken niederhingen" auf den Tower. Diese Beste, hat sie nicht
einst eine ähnliche Rolle gespielt, hat sie nicht eben so blutige Tha¬
ten gesehen, wie der Moskaner Kreml zu Iwan's und zu Peter's
Zeiten, wie alle Zwingburgen des ritterthümlichen Königthums?
Friedlich und zahm, fast unscheinbar geworden seit dem letzten Brande,
streckt sich der Tower jetzt am linken Ufer hin mit grauen gähnen¬
den Thoren; und bezeichnend genug, liegt er mitten im geräusch¬
vollen Lager des täglichen Verkehrs, von allen Seiten umgeben ihn
Werften und Schiffe, deren Bevölkerung kaum Zeit hat, einen Blick
auf die Burg zu werfen, wo Shakspeare's tragische Könige um¬
gehen. Vielleicht, als hier das Linienschiff mit chinesischem Svcee-
silber neulich vorbeifuhr, stand einer der alten Könige auf den
Zinnen, wie der Geist des Ritters im Göthe'schen Gedicht, der das
„Menschenschifflein" grüßt, und gedachte des Unterschiedes zwischen
Elisabeth's und Victoria's Tagen.

Die Themse ist von majestätischer Breite, wenn man nach der
Länge der Brücke schließt, aber sie erscheint nur schmal, weil der
Mastenwald an beiden Ufern sie verdeckt; wie ein mäßiger, tief
strömender Fluß, der sich durch einen lang hingestreckten Tannen¬
forst Bahn bricht. Aber man fühlt die Gewalt des Meeres ihren
Fluten an. Die Londonbridge ist die erste von Osten aus, liegt
aber doch schon mitten im Innersten der Weltstadt. So wogt denn
die glänzende Straße des Welthandels und trägt die dreimastigen


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[0587] Mühe werth, hier eine Weile stehen zu bleiben und zu gaffen. Als Knabe sah ich in einer alten Chronik, die mit Kupfern verziert war, ein Gemälde von Tyrus, welches meine Phantasie lange beschäf¬ tigte, und das ich endlich vergaß. Aber hier mußte ich plötzlich wieder an das alte Kupfer denken. Ein trüber Himmel dämpfte alle Farben, nur die Themse blitzte manchmal auf in einem flüch¬ tigen Sonnenstrahl. Rechts auf dem linken Ufer erhob sich die Kuppel von Se. Paul, wie ein dunkles Stück Rom durch nor¬ dischen Nebel blickend; denn Se. Paul ist eine Nachahmung von Se. Peter, wie die anglikanische Episkopalkirche ein Schattenbild der katholischen ist. England wollte sein Rom nur im Lande haben: das ist ja der eigentliche Sinn des hiesigen Protestantismus. Und links, welches Gewühl von Wimpeln, Essen, Giebeln, Wetterhähnen und Telegraphen, vom Zollhause bis fern hinab, wo „des Donners Wolken niederhingen" auf den Tower. Diese Beste, hat sie nicht einst eine ähnliche Rolle gespielt, hat sie nicht eben so blutige Tha¬ ten gesehen, wie der Moskaner Kreml zu Iwan's und zu Peter's Zeiten, wie alle Zwingburgen des ritterthümlichen Königthums? Friedlich und zahm, fast unscheinbar geworden seit dem letzten Brande, streckt sich der Tower jetzt am linken Ufer hin mit grauen gähnen¬ den Thoren; und bezeichnend genug, liegt er mitten im geräusch¬ vollen Lager des täglichen Verkehrs, von allen Seiten umgeben ihn Werften und Schiffe, deren Bevölkerung kaum Zeit hat, einen Blick auf die Burg zu werfen, wo Shakspeare's tragische Könige um¬ gehen. Vielleicht, als hier das Linienschiff mit chinesischem Svcee- silber neulich vorbeifuhr, stand einer der alten Könige auf den Zinnen, wie der Geist des Ritters im Göthe'schen Gedicht, der das „Menschenschifflein" grüßt, und gedachte des Unterschiedes zwischen Elisabeth's und Victoria's Tagen. Die Themse ist von majestätischer Breite, wenn man nach der Länge der Brücke schließt, aber sie erscheint nur schmal, weil der Mastenwald an beiden Ufern sie verdeckt; wie ein mäßiger, tief strömender Fluß, der sich durch einen lang hingestreckten Tannen¬ forst Bahn bricht. Aber man fühlt die Gewalt des Meeres ihren Fluten an. Die Londonbridge ist die erste von Osten aus, liegt aber doch schon mitten im Innersten der Weltstadt. So wogt denn die glänzende Straße des Welthandels und trägt die dreimastigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/587>, abgerufen am 29.05.2024.