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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Todte beliebt gewesen. --- Großpapa war an Altersschwäche gestor-'
ben. Er hatte bis wenige Tage vor dem Tode mit dem Kaplan
über gelehrte Dinge disputirt, und sich über nichts so gewundert als
über seinen Mangel an Gedächtniß, der es ihm unmöglich gemacht
hatte, mit den Namen der Ketzer und Ketzereien so schnell zur Hand
zu sein, als er es gewünscht hätte. Der Kaplan war ihm ein gro¬
ßer Trost gewesen während der Krankheit. ,

Als die Leiche des Großvaters auf dem Friedhofe eingesenkt wurde,
weinten sehr Viele, nicht blos die Kinder und Verwandten, sondern
auch Fremde; aber Wunder nahm es mich, daß die Großmutter so
wenig äußere Zeichen des Schmerzes voll sich gab. Ich glaube, sie
weinte von Allen am wenigsten. Jetzt kann ich mir dies recht wohl
erklären. Die alten Leute haben eine eigene Philosophie, um sich über
den Tod eines theuren Angehörigen zu trösten; sie betrachten sein
Scheiden aus der Welt nur als den Hingang an einen schönen Ort,
wohin sie ihm in wenig Monden oder Jahren nachfolgen. Das mochte
wohl auch die Philosophie der Großmutter an dem Grabe ihres Man¬
nes sein. --

Es waren ein Jahr und ungefähr neun Monate verflossen, seit
jenem verhängnißvollen Palmsonntage. Es war Weihnachten und sehr
kalt; ich war Tertianer und reiste mit meinem Zeugnisse zu den Fe¬
rien. Als ich zu den Eltern kam, erkundigte ich mich sogleich nach
dem Befinden der Großmutter. -- "Sie ist seit einigen Wochen ganz
unwohl, lieber Sohn," sprach meine Mutter. Ich besuchte sie bald
darauf selbst und fand sie schlechter aussehend, als ich es erwartet
hatte. Sie saß auf einem Polsterstuhle und hustete, als ich eintrat.
"Was fehlt Euch, liebe Großmutter?" fragte ich. -- "Ich habe star¬
ken Husten."-- "Aber es wird doch wieder besser werden, liebe Gro߬
mutter?" -- "O ja, ich hoffe, es wird bald gut sein für immer." --
Die letzten Worte sprach sie etwas gedämpft und mit einem eigenthüm¬
lichen Lächeln, das mir in die Seele schnitt. Ich wußte mir dies da¬
mals nicht zu erklären, habe aber später bei alten Leuten, welche recht
naturgemäß gelebt, dasselbe humoristisch-traurige Lächeln oft wiederge¬
funden. --

Ich faßte die Hand der Großmutter und sagte: "Ihr habt doch
einen Arzt?" -- Nein," -- antwortete sie. -- "Und warum nehmt
Ihr keinen?" Mir wird kein Doctor mehr helfen; kein Arzt kann
mich mehr jung machen. -- Aber höre, ich werde Dir diesmal den
Thaler bald geben; es bleibt sich ja gleich, ob Du ihn jetzt erhältst


Todte beliebt gewesen. —- Großpapa war an Altersschwäche gestor-'
ben. Er hatte bis wenige Tage vor dem Tode mit dem Kaplan
über gelehrte Dinge disputirt, und sich über nichts so gewundert als
über seinen Mangel an Gedächtniß, der es ihm unmöglich gemacht
hatte, mit den Namen der Ketzer und Ketzereien so schnell zur Hand
zu sein, als er es gewünscht hätte. Der Kaplan war ihm ein gro¬
ßer Trost gewesen während der Krankheit. ,

Als die Leiche des Großvaters auf dem Friedhofe eingesenkt wurde,
weinten sehr Viele, nicht blos die Kinder und Verwandten, sondern
auch Fremde; aber Wunder nahm es mich, daß die Großmutter so
wenig äußere Zeichen des Schmerzes voll sich gab. Ich glaube, sie
weinte von Allen am wenigsten. Jetzt kann ich mir dies recht wohl
erklären. Die alten Leute haben eine eigene Philosophie, um sich über
den Tod eines theuren Angehörigen zu trösten; sie betrachten sein
Scheiden aus der Welt nur als den Hingang an einen schönen Ort,
wohin sie ihm in wenig Monden oder Jahren nachfolgen. Das mochte
wohl auch die Philosophie der Großmutter an dem Grabe ihres Man¬
nes sein. —

Es waren ein Jahr und ungefähr neun Monate verflossen, seit
jenem verhängnißvollen Palmsonntage. Es war Weihnachten und sehr
kalt; ich war Tertianer und reiste mit meinem Zeugnisse zu den Fe¬
rien. Als ich zu den Eltern kam, erkundigte ich mich sogleich nach
dem Befinden der Großmutter. — „Sie ist seit einigen Wochen ganz
unwohl, lieber Sohn," sprach meine Mutter. Ich besuchte sie bald
darauf selbst und fand sie schlechter aussehend, als ich es erwartet
hatte. Sie saß auf einem Polsterstuhle und hustete, als ich eintrat.
„Was fehlt Euch, liebe Großmutter?" fragte ich. — „Ich habe star¬
ken Husten."— „Aber es wird doch wieder besser werden, liebe Gro߬
mutter?" — „O ja, ich hoffe, es wird bald gut sein für immer." —
Die letzten Worte sprach sie etwas gedämpft und mit einem eigenthüm¬
lichen Lächeln, das mir in die Seele schnitt. Ich wußte mir dies da¬
mals nicht zu erklären, habe aber später bei alten Leuten, welche recht
naturgemäß gelebt, dasselbe humoristisch-traurige Lächeln oft wiederge¬
funden. —

Ich faßte die Hand der Großmutter und sagte: „Ihr habt doch
einen Arzt?" — Nein," — antwortete sie. — „Und warum nehmt
Ihr keinen?" Mir wird kein Doctor mehr helfen; kein Arzt kann
mich mehr jung machen. — Aber höre, ich werde Dir diesmal den
Thaler bald geben; es bleibt sich ja gleich, ob Du ihn jetzt erhältst


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[0309] Todte beliebt gewesen. —- Großpapa war an Altersschwäche gestor-' ben. Er hatte bis wenige Tage vor dem Tode mit dem Kaplan über gelehrte Dinge disputirt, und sich über nichts so gewundert als über seinen Mangel an Gedächtniß, der es ihm unmöglich gemacht hatte, mit den Namen der Ketzer und Ketzereien so schnell zur Hand zu sein, als er es gewünscht hätte. Der Kaplan war ihm ein gro¬ ßer Trost gewesen während der Krankheit. , Als die Leiche des Großvaters auf dem Friedhofe eingesenkt wurde, weinten sehr Viele, nicht blos die Kinder und Verwandten, sondern auch Fremde; aber Wunder nahm es mich, daß die Großmutter so wenig äußere Zeichen des Schmerzes voll sich gab. Ich glaube, sie weinte von Allen am wenigsten. Jetzt kann ich mir dies recht wohl erklären. Die alten Leute haben eine eigene Philosophie, um sich über den Tod eines theuren Angehörigen zu trösten; sie betrachten sein Scheiden aus der Welt nur als den Hingang an einen schönen Ort, wohin sie ihm in wenig Monden oder Jahren nachfolgen. Das mochte wohl auch die Philosophie der Großmutter an dem Grabe ihres Man¬ nes sein. — Es waren ein Jahr und ungefähr neun Monate verflossen, seit jenem verhängnißvollen Palmsonntage. Es war Weihnachten und sehr kalt; ich war Tertianer und reiste mit meinem Zeugnisse zu den Fe¬ rien. Als ich zu den Eltern kam, erkundigte ich mich sogleich nach dem Befinden der Großmutter. — „Sie ist seit einigen Wochen ganz unwohl, lieber Sohn," sprach meine Mutter. Ich besuchte sie bald darauf selbst und fand sie schlechter aussehend, als ich es erwartet hatte. Sie saß auf einem Polsterstuhle und hustete, als ich eintrat. „Was fehlt Euch, liebe Großmutter?" fragte ich. — „Ich habe star¬ ken Husten."— „Aber es wird doch wieder besser werden, liebe Gro߬ mutter?" — „O ja, ich hoffe, es wird bald gut sein für immer." — Die letzten Worte sprach sie etwas gedämpft und mit einem eigenthüm¬ lichen Lächeln, das mir in die Seele schnitt. Ich wußte mir dies da¬ mals nicht zu erklären, habe aber später bei alten Leuten, welche recht naturgemäß gelebt, dasselbe humoristisch-traurige Lächeln oft wiederge¬ funden. — Ich faßte die Hand der Großmutter und sagte: „Ihr habt doch einen Arzt?" — Nein," — antwortete sie. — „Und warum nehmt Ihr keinen?" Mir wird kein Doctor mehr helfen; kein Arzt kann mich mehr jung machen. — Aber höre, ich werde Dir diesmal den Thaler bald geben; es bleibt sich ja gleich, ob Du ihn jetzt erhältst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/309>, abgerufen am 16.06.2024.