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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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nen sehr übel ergangen, und jedem blinden Visionair ward mehr ge¬
glaubt, als dem nüchternsten Beobachter. -- Doch zurück zu unserm
Widerspruch, den ich gleich als nur scheinbar annehme, gewohnt, wie
ich bin, deine Beobachtungen, Maria, als Orakel anzunehmen. -- Ich
halte also die Deutschen, insbesondere die des Nordens, für weit in¬
dividueller als alle andern Nationen, und weit entfernt, dies für einen
Mangel zu halten, sehe ich vielmehr darin zur Zeit ihren einzigen Vor¬
zug vor den Franzosen und Engländern. -- Die Natur ist zu reich,
als daß nicht jede ihrer Schöpfungen verschieden sein sollte von der
andern, je unorganischer, lebensloser diese werden, je mehr gleichen sie
sich, und die größte Verschiedenheit findet sich in der Spitze der Natur,
im einzelnen Menschen. Je reicher also die einzelne Menschennatur,
desto verschiedener ist auch sie von der andern. Solchen Naturen wi¬
derstrebt es aber, sich unter ein gemeinsames Gesetz zu stellen, welches
den Individualitäten die Spitze abbricht, daher kommt es denn auch,
daß die Deutschen in der Geschichte nur zu der Zeit bedeutend waren,
als jede Faust souverain war. Der Staat hat aber bei ihnen nie zu
der Concentrirung gelangen können, wie in Frankreich und England,
und wird es auch niemals, mögen die Liberalen auch noch so viel von
der Einheit Deutschlands reden. Die eigentliche Wirksamkeit und Be¬
deutung eines solchen Volkes kann erst dann hervortreten, wenn es der
Concentrirung in eine große Staatsgewalt zur Sicherstellung des Ein¬
zelnen nicht mehr bedarf. Bei den romanischen Völkern ist die Herr¬
schaft eines allgemeinen auch außerhalb des Staates gewöhnlich und
leicht. Religion, Philosophie, Dichtkunst, Musik :c. sind für alle in
denselben Formen gültig, die großen Männer in den verschiedenen Zwei¬
gen beherrschen meistens das ganze Volk. Bei den Deutschen hingegen
kommt höchstens einmal ein Goethe und Schiller zu einigermaßen all¬
gemeiner Anerkennung, sonst hat jedes Land, oft jede Stadt ihre Be¬
sonderheit in allen diesen Dingen. Vor der Hand drückt diese Beson¬
derheit sehr auf der Entwickelung des deutschen Charakters, weil die
socialen Verhältnisse, der rohe Kampf um das tägliche Brod, die dc-
moralistrende, alle höhern Geistesfähigkeiten abstumpfende Concurrenz
die freie Entwickelung des Einzelnen nicht gestatten. Unter solchen
Umstünden ist die Concentration in eine große, mächtige Staatsgewalt
das einzige Mittel, dem Volke Selbstbewußtsein, und den Schein ei¬
nes höhern Lebens zu geben, freilich in der Form der Entäußerung
vom einzelnen Individuum. Dieser Mangel und eine dem germani¬
schen Charakter angeborene Zaghaftigkeit machen es, daß der Deutsche


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nen sehr übel ergangen, und jedem blinden Visionair ward mehr ge¬
glaubt, als dem nüchternsten Beobachter. — Doch zurück zu unserm
Widerspruch, den ich gleich als nur scheinbar annehme, gewohnt, wie
ich bin, deine Beobachtungen, Maria, als Orakel anzunehmen. — Ich
halte also die Deutschen, insbesondere die des Nordens, für weit in¬
dividueller als alle andern Nationen, und weit entfernt, dies für einen
Mangel zu halten, sehe ich vielmehr darin zur Zeit ihren einzigen Vor¬
zug vor den Franzosen und Engländern. — Die Natur ist zu reich,
als daß nicht jede ihrer Schöpfungen verschieden sein sollte von der
andern, je unorganischer, lebensloser diese werden, je mehr gleichen sie
sich, und die größte Verschiedenheit findet sich in der Spitze der Natur,
im einzelnen Menschen. Je reicher also die einzelne Menschennatur,
desto verschiedener ist auch sie von der andern. Solchen Naturen wi¬
derstrebt es aber, sich unter ein gemeinsames Gesetz zu stellen, welches
den Individualitäten die Spitze abbricht, daher kommt es denn auch,
daß die Deutschen in der Geschichte nur zu der Zeit bedeutend waren,
als jede Faust souverain war. Der Staat hat aber bei ihnen nie zu
der Concentrirung gelangen können, wie in Frankreich und England,
und wird es auch niemals, mögen die Liberalen auch noch so viel von
der Einheit Deutschlands reden. Die eigentliche Wirksamkeit und Be¬
deutung eines solchen Volkes kann erst dann hervortreten, wenn es der
Concentrirung in eine große Staatsgewalt zur Sicherstellung des Ein¬
zelnen nicht mehr bedarf. Bei den romanischen Völkern ist die Herr¬
schaft eines allgemeinen auch außerhalb des Staates gewöhnlich und
leicht. Religion, Philosophie, Dichtkunst, Musik :c. sind für alle in
denselben Formen gültig, die großen Männer in den verschiedenen Zwei¬
gen beherrschen meistens das ganze Volk. Bei den Deutschen hingegen
kommt höchstens einmal ein Goethe und Schiller zu einigermaßen all¬
gemeiner Anerkennung, sonst hat jedes Land, oft jede Stadt ihre Be¬
sonderheit in allen diesen Dingen. Vor der Hand drückt diese Beson¬
derheit sehr auf der Entwickelung des deutschen Charakters, weil die
socialen Verhältnisse, der rohe Kampf um das tägliche Brod, die dc-
moralistrende, alle höhern Geistesfähigkeiten abstumpfende Concurrenz
die freie Entwickelung des Einzelnen nicht gestatten. Unter solchen
Umstünden ist die Concentration in eine große, mächtige Staatsgewalt
das einzige Mittel, dem Volke Selbstbewußtsein, und den Schein ei¬
nes höhern Lebens zu geben, freilich in der Form der Entäußerung
vom einzelnen Individuum. Dieser Mangel und eine dem germani¬
schen Charakter angeborene Zaghaftigkeit machen es, daß der Deutsche


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[0029] nen sehr übel ergangen, und jedem blinden Visionair ward mehr ge¬ glaubt, als dem nüchternsten Beobachter. — Doch zurück zu unserm Widerspruch, den ich gleich als nur scheinbar annehme, gewohnt, wie ich bin, deine Beobachtungen, Maria, als Orakel anzunehmen. — Ich halte also die Deutschen, insbesondere die des Nordens, für weit in¬ dividueller als alle andern Nationen, und weit entfernt, dies für einen Mangel zu halten, sehe ich vielmehr darin zur Zeit ihren einzigen Vor¬ zug vor den Franzosen und Engländern. — Die Natur ist zu reich, als daß nicht jede ihrer Schöpfungen verschieden sein sollte von der andern, je unorganischer, lebensloser diese werden, je mehr gleichen sie sich, und die größte Verschiedenheit findet sich in der Spitze der Natur, im einzelnen Menschen. Je reicher also die einzelne Menschennatur, desto verschiedener ist auch sie von der andern. Solchen Naturen wi¬ derstrebt es aber, sich unter ein gemeinsames Gesetz zu stellen, welches den Individualitäten die Spitze abbricht, daher kommt es denn auch, daß die Deutschen in der Geschichte nur zu der Zeit bedeutend waren, als jede Faust souverain war. Der Staat hat aber bei ihnen nie zu der Concentrirung gelangen können, wie in Frankreich und England, und wird es auch niemals, mögen die Liberalen auch noch so viel von der Einheit Deutschlands reden. Die eigentliche Wirksamkeit und Be¬ deutung eines solchen Volkes kann erst dann hervortreten, wenn es der Concentrirung in eine große Staatsgewalt zur Sicherstellung des Ein¬ zelnen nicht mehr bedarf. Bei den romanischen Völkern ist die Herr¬ schaft eines allgemeinen auch außerhalb des Staates gewöhnlich und leicht. Religion, Philosophie, Dichtkunst, Musik :c. sind für alle in denselben Formen gültig, die großen Männer in den verschiedenen Zwei¬ gen beherrschen meistens das ganze Volk. Bei den Deutschen hingegen kommt höchstens einmal ein Goethe und Schiller zu einigermaßen all¬ gemeiner Anerkennung, sonst hat jedes Land, oft jede Stadt ihre Be¬ sonderheit in allen diesen Dingen. Vor der Hand drückt diese Beson¬ derheit sehr auf der Entwickelung des deutschen Charakters, weil die socialen Verhältnisse, der rohe Kampf um das tägliche Brod, die dc- moralistrende, alle höhern Geistesfähigkeiten abstumpfende Concurrenz die freie Entwickelung des Einzelnen nicht gestatten. Unter solchen Umstünden ist die Concentration in eine große, mächtige Staatsgewalt das einzige Mittel, dem Volke Selbstbewußtsein, und den Schein ei¬ nes höhern Lebens zu geben, freilich in der Form der Entäußerung vom einzelnen Individuum. Dieser Mangel und eine dem germani¬ schen Charakter angeborene Zaghaftigkeit machen es, daß der Deutsche Grenzboten. IV. I8i«. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/29>, abgerufen am 21.05.2024.