Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.die dem entarteten Söldling die längst verlorenen Herrlichkeiten der die dem entarteten Söldling die längst verlorenen Herrlichkeiten der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0028" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183610"/> <p xml:id="ID_44" prev="#ID_43" next="#ID_45"> die dem entarteten Söldling die längst verlorenen Herrlichkeiten der<lb/> Heimath vorüberfuhren. Wollte man der Stimmung Worte und Tha¬<lb/> ten verleihen, der Landschaft ihre Staffage geben, wir würden bald<lb/> den Enthusiasmus in Haß und Empörung sich verwandeln sehen." —<lb/> „Du scheinst also", sagte Fernand, „auch eine Anhängerin der in Deutsch¬<lb/> land von der Kritik verpöntem, vom Publicum aber nichts desto weni¬<lb/> ger sehr goutirten Musik der neueren Italiener zu sein?" — „Ich bin",<lb/> antwortete sie, „nicht Kennerin genug, um mich als Anhängerin dieser oder<lb/> jener Musik zu erklären, finde es aber freilich unbegreiflich, wie man sein<lb/> Ohr deir himmlischen Melodien von Bellini, Donizetti und Verdi verschließen<lb/> kann. Es geht mir übrigens ganz eigen mit dieser Musik r So lange ich in<lb/> Italien bin, wo der menschenfreundliche Himmel alle Pforten der Seele<lb/> öffnet und jede Leidenschaft frei ausströmen mag, da langweilt es mich<lb/> auf der Bühne immer dasselbe zu hören, was schon in der Lust liegt,<lb/> was Meer, Himmel und Erde hier aussprechen, was Jeder im tägli¬<lb/> chen Leben sogar bei Handel und Wandel bethätigt, und ich fange an,<lb/> mich nach nordischer Individualität zu sehnen. Allein zurückgekehrt zum<lb/> Norden, und zwar zum deutschen Norden, wo Himmel und Erde, die<lb/> Poren der Seele schließend, jeden auf sich zurückdrängen, wo die Men¬<lb/> schen nur nach vorgeschriebenen Regeln denken, handeln und lieben,<lb/> und was sie Eignes für sich haben, in sich verschließen; wenn ich da<lb/> einmal von italienischen Sängern, denn die Deutschen vermögen mit<lb/> sehr seltenen Ausnahmen diese Musik nicht zu singen, jene glühenden<lb/> Arien höre, dann jauchzt mein ganzes Wesen, wie ein Gefangener,<lb/> der auf schnellem Rosse seinem dunklen Kerker entflieht. — „Du sprichst,"<lb/> sagte Fernand, „einmal von nordischer Individualität und das andere<lb/> Mal klagst du darüber, daß dort Alles nach vorgeschriebenen Regeln<lb/> geschehe, das ist doch offenbar ein Widerspruch, über den so ohne Wei¬<lb/> teres hinüberzuhüpfen ich dir nicht erlauben kann." — „Wozu wären<lb/> denn die Männer da," antwortete sie, „wenn sie die Beobachtungen,<lb/> welche die Frauen vermöge ihrer feineren Fühlfäden überall machen,<lb/> nicht mit Hilfe ihrer Wissenschaft und Logik zu begründen wüßten." —<lb/> „Nun mein Freund," sagte sie zu mir sich wendend, ich hoffe, du wirst<lb/> mich nicht sitzen lassen und diesem Ungläubigen beweisen, daß ich recht<lb/> habe; was mich betrifft, ich bedarf eurer Beweise nicht; meine Nerven,<lb/> Augen und Ohren sind mir stärkere Zeugen, als eure Wissenschaft."-—<lb/> „Diese Zeugen," sagte ich, „fangen erst in neuerer Zeit wieder an, et¬<lb/> was Credit zu bekommen. Seitdem Sokrates sie so verdächtigt hat,<lb/> daß er behauptete, sie seien nur Schattenbilder des Wirklichen, ist's it></p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0028]
die dem entarteten Söldling die längst verlorenen Herrlichkeiten der
Heimath vorüberfuhren. Wollte man der Stimmung Worte und Tha¬
ten verleihen, der Landschaft ihre Staffage geben, wir würden bald
den Enthusiasmus in Haß und Empörung sich verwandeln sehen." —
„Du scheinst also", sagte Fernand, „auch eine Anhängerin der in Deutsch¬
land von der Kritik verpöntem, vom Publicum aber nichts desto weni¬
ger sehr goutirten Musik der neueren Italiener zu sein?" — „Ich bin",
antwortete sie, „nicht Kennerin genug, um mich als Anhängerin dieser oder
jener Musik zu erklären, finde es aber freilich unbegreiflich, wie man sein
Ohr deir himmlischen Melodien von Bellini, Donizetti und Verdi verschließen
kann. Es geht mir übrigens ganz eigen mit dieser Musik r So lange ich in
Italien bin, wo der menschenfreundliche Himmel alle Pforten der Seele
öffnet und jede Leidenschaft frei ausströmen mag, da langweilt es mich
auf der Bühne immer dasselbe zu hören, was schon in der Lust liegt,
was Meer, Himmel und Erde hier aussprechen, was Jeder im tägli¬
chen Leben sogar bei Handel und Wandel bethätigt, und ich fange an,
mich nach nordischer Individualität zu sehnen. Allein zurückgekehrt zum
Norden, und zwar zum deutschen Norden, wo Himmel und Erde, die
Poren der Seele schließend, jeden auf sich zurückdrängen, wo die Men¬
schen nur nach vorgeschriebenen Regeln denken, handeln und lieben,
und was sie Eignes für sich haben, in sich verschließen; wenn ich da
einmal von italienischen Sängern, denn die Deutschen vermögen mit
sehr seltenen Ausnahmen diese Musik nicht zu singen, jene glühenden
Arien höre, dann jauchzt mein ganzes Wesen, wie ein Gefangener,
der auf schnellem Rosse seinem dunklen Kerker entflieht. — „Du sprichst,"
sagte Fernand, „einmal von nordischer Individualität und das andere
Mal klagst du darüber, daß dort Alles nach vorgeschriebenen Regeln
geschehe, das ist doch offenbar ein Widerspruch, über den so ohne Wei¬
teres hinüberzuhüpfen ich dir nicht erlauben kann." — „Wozu wären
denn die Männer da," antwortete sie, „wenn sie die Beobachtungen,
welche die Frauen vermöge ihrer feineren Fühlfäden überall machen,
nicht mit Hilfe ihrer Wissenschaft und Logik zu begründen wüßten." —
„Nun mein Freund," sagte sie zu mir sich wendend, ich hoffe, du wirst
mich nicht sitzen lassen und diesem Ungläubigen beweisen, daß ich recht
habe; was mich betrifft, ich bedarf eurer Beweise nicht; meine Nerven,
Augen und Ohren sind mir stärkere Zeugen, als eure Wissenschaft."-—
„Diese Zeugen," sagte ich, „fangen erst in neuerer Zeit wieder an, et¬
was Credit zu bekommen. Seitdem Sokrates sie so verdächtigt hat,
daß er behauptete, sie seien nur Schattenbilder des Wirklichen, ist's it>
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