Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wendbar, die von bürgerlicher Gleichheit ausgehend, in stufenweisen Prüfungen
die höherstehenden, zur Gedankenarbeit bestimmten Intelligenzen fortwährend zu
erwählen und den andern mit den speciellen Gewerbskenntnissen allgemeine Lehren
zu geben verstünde, die sie mit einem geistigen Band an das Gesammtleben knüpften?




Das Volk will nicht, wie man vorgibt, Ueppigkeit und Liederlichkeit im Mü¬
ßiggange; es verlangt Wohlsein durch Arbeit erkauft; und wenn es heutigen Ta¬
ges Faulheit, Leichtsinn, Ausschweifungen zeigt, welche für oberflächliche Urtheile
seinen erbärmlichen Zustand erklären und rechtfertigen, so geschieht es mir, weil
sein angestrengtester Fleiß sich ungenügend erweist und nur eine flüchtige, kaum
merkbare Erleichterung den Leiden bringt, für die es keine Abhilfe gibt. Was
will es heißen, einen Tag sich besser befinden, für Jemand, der ein ganzes Leben
voll Jammer vor sich hat? Dies ist, vielleicht nicht die Reflexion, aber doch sicher
der Instinkt, welcher den Mann vom Volke in die Herberge treibt, wo er, um
mit einem Moralisten zu reden, Vergessen seiner Schmerzen trinkt.




Ihr sprecht: "Das Volk ist ein verdummtes, oft ein reißendes Thier," und
erwägt nicht, daß Ihr, bemüht Eure Gleichartigkeit zu entschuldigen, Euch noch
strafbarer zeigt. In der That, was den Sohn des Volkes so mitleidwürdig macht,
ist weniger, was er als Mensch leidet, als die Unmöglichkeit, in der er sich nieist
sieht, Mensch zu werden. Welch niederdrückendes Schauspiel diese unzähligen
Massen, durch die Schuld einer egoistischen oder zerstreuten Gesellschaft der Vor¬
rechte der Humanität beraubt, mit denen sie so gut wie Jeder von uns geboren
werden? Zweifelt Ihr, daß der Proletarier eine zum Lieben empfängliche Seele
habe und sähig das Schlimme vom Guten, das Wahre vom Falschen zu unter"
scheiden? Woher kommt es also, daß er ein Thier bleibt und daß Ihr nur Wi¬
derwillen vor ihm empfindet? Fragt Euer Gewissen und antwortet.




Wenn Ihr dem Volke häusliche Tugend predigen wollt, so beginnt damit,
daß Ihr Holz auf seinem Heerde anzündet; dann könnt Ihr nach Belieben beredt
sein. Wenn Ihr ihm Familienfreuden rühmen wollt, so bringt seinen Kindern
Brot, damit ihr Geschrei Eure Vorträge nicht unterbricht, und versäumt uicht
Scheiben in seine Fenster setzen zu lassen, aus Furcht, der Nordwind möchte mit
Euch in die Stube dringen und die evangelistische Moral auf Euren Lippen ge¬
frieren. --




Die Gewohnheit der Reinlichkeit ist eines der ersten Zeichen jener Selbst¬
achtung , welche Anfang und Ende aller Sitte ist. So lange das Volk nicht aus
der häuslichen Unsauberkeit gerissen wird, in der es aus Unwissenheit versunken
bleibt, dürft Ihr nicht hoffen, es empfänglicher zu stimmen für gewisse Skrupel


wendbar, die von bürgerlicher Gleichheit ausgehend, in stufenweisen Prüfungen
die höherstehenden, zur Gedankenarbeit bestimmten Intelligenzen fortwährend zu
erwählen und den andern mit den speciellen Gewerbskenntnissen allgemeine Lehren
zu geben verstünde, die sie mit einem geistigen Band an das Gesammtleben knüpften?




Das Volk will nicht, wie man vorgibt, Ueppigkeit und Liederlichkeit im Mü¬
ßiggange; es verlangt Wohlsein durch Arbeit erkauft; und wenn es heutigen Ta¬
ges Faulheit, Leichtsinn, Ausschweifungen zeigt, welche für oberflächliche Urtheile
seinen erbärmlichen Zustand erklären und rechtfertigen, so geschieht es mir, weil
sein angestrengtester Fleiß sich ungenügend erweist und nur eine flüchtige, kaum
merkbare Erleichterung den Leiden bringt, für die es keine Abhilfe gibt. Was
will es heißen, einen Tag sich besser befinden, für Jemand, der ein ganzes Leben
voll Jammer vor sich hat? Dies ist, vielleicht nicht die Reflexion, aber doch sicher
der Instinkt, welcher den Mann vom Volke in die Herberge treibt, wo er, um
mit einem Moralisten zu reden, Vergessen seiner Schmerzen trinkt.




Ihr sprecht: „Das Volk ist ein verdummtes, oft ein reißendes Thier," und
erwägt nicht, daß Ihr, bemüht Eure Gleichartigkeit zu entschuldigen, Euch noch
strafbarer zeigt. In der That, was den Sohn des Volkes so mitleidwürdig macht,
ist weniger, was er als Mensch leidet, als die Unmöglichkeit, in der er sich nieist
sieht, Mensch zu werden. Welch niederdrückendes Schauspiel diese unzähligen
Massen, durch die Schuld einer egoistischen oder zerstreuten Gesellschaft der Vor¬
rechte der Humanität beraubt, mit denen sie so gut wie Jeder von uns geboren
werden? Zweifelt Ihr, daß der Proletarier eine zum Lieben empfängliche Seele
habe und sähig das Schlimme vom Guten, das Wahre vom Falschen zu unter»
scheiden? Woher kommt es also, daß er ein Thier bleibt und daß Ihr nur Wi¬
derwillen vor ihm empfindet? Fragt Euer Gewissen und antwortet.




Wenn Ihr dem Volke häusliche Tugend predigen wollt, so beginnt damit,
daß Ihr Holz auf seinem Heerde anzündet; dann könnt Ihr nach Belieben beredt
sein. Wenn Ihr ihm Familienfreuden rühmen wollt, so bringt seinen Kindern
Brot, damit ihr Geschrei Eure Vorträge nicht unterbricht, und versäumt uicht
Scheiben in seine Fenster setzen zu lassen, aus Furcht, der Nordwind möchte mit
Euch in die Stube dringen und die evangelistische Moral auf Euren Lippen ge¬
frieren. —




Die Gewohnheit der Reinlichkeit ist eines der ersten Zeichen jener Selbst¬
achtung , welche Anfang und Ende aller Sitte ist. So lange das Volk nicht aus
der häuslichen Unsauberkeit gerissen wird, in der es aus Unwissenheit versunken
bleibt, dürft Ihr nicht hoffen, es empfänglicher zu stimmen für gewisse Skrupel


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0512" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/276718"/>
          <p xml:id="ID_1751" prev="#ID_1750"> wendbar, die von bürgerlicher Gleichheit ausgehend, in stufenweisen Prüfungen<lb/>
die höherstehenden, zur Gedankenarbeit bestimmten Intelligenzen fortwährend zu<lb/>
erwählen und den andern mit den speciellen Gewerbskenntnissen allgemeine Lehren<lb/>
zu geben verstünde, die sie mit einem geistigen Band an das Gesammtleben knüpften?</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1752"> Das Volk will nicht, wie man vorgibt, Ueppigkeit und Liederlichkeit im Mü¬<lb/>
ßiggange; es verlangt Wohlsein durch Arbeit erkauft; und wenn es heutigen Ta¬<lb/>
ges Faulheit, Leichtsinn, Ausschweifungen zeigt, welche für oberflächliche Urtheile<lb/>
seinen erbärmlichen Zustand erklären und rechtfertigen, so geschieht es mir, weil<lb/>
sein angestrengtester Fleiß sich ungenügend erweist und nur eine flüchtige, kaum<lb/>
merkbare Erleichterung den Leiden bringt, für die es keine Abhilfe gibt. Was<lb/>
will es heißen, einen Tag sich besser befinden, für Jemand, der ein ganzes Leben<lb/>
voll Jammer vor sich hat? Dies ist, vielleicht nicht die Reflexion, aber doch sicher<lb/>
der Instinkt, welcher den Mann vom Volke in die Herberge treibt, wo er, um<lb/>
mit einem Moralisten zu reden, Vergessen seiner Schmerzen trinkt.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1753"> Ihr sprecht: &#x201E;Das Volk ist ein verdummtes, oft ein reißendes Thier," und<lb/>
erwägt nicht, daß Ihr, bemüht Eure Gleichartigkeit zu entschuldigen, Euch noch<lb/>
strafbarer zeigt. In der That, was den Sohn des Volkes so mitleidwürdig macht,<lb/>
ist weniger, was er als Mensch leidet, als die Unmöglichkeit, in der er sich nieist<lb/>
sieht, Mensch zu werden. Welch niederdrückendes Schauspiel diese unzähligen<lb/>
Massen, durch die Schuld einer egoistischen oder zerstreuten Gesellschaft der Vor¬<lb/>
rechte der Humanität beraubt, mit denen sie so gut wie Jeder von uns geboren<lb/>
werden? Zweifelt Ihr, daß der Proletarier eine zum Lieben empfängliche Seele<lb/>
habe und sähig das Schlimme vom Guten, das Wahre vom Falschen zu unter»<lb/>
scheiden? Woher kommt es also, daß er ein Thier bleibt und daß Ihr nur Wi¬<lb/>
derwillen vor ihm empfindet? Fragt Euer Gewissen und antwortet.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1754"> Wenn Ihr dem Volke häusliche Tugend predigen wollt, so beginnt damit,<lb/>
daß Ihr Holz auf seinem Heerde anzündet; dann könnt Ihr nach Belieben beredt<lb/>
sein. Wenn Ihr ihm Familienfreuden rühmen wollt, so bringt seinen Kindern<lb/>
Brot, damit ihr Geschrei Eure Vorträge nicht unterbricht, und versäumt uicht<lb/>
Scheiben in seine Fenster setzen zu lassen, aus Furcht, der Nordwind möchte mit<lb/>
Euch in die Stube dringen und die evangelistische Moral auf Euren Lippen ge¬<lb/>
frieren. &#x2014;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1755" next="#ID_1756"> Die Gewohnheit der Reinlichkeit ist eines der ersten Zeichen jener Selbst¬<lb/>
achtung , welche Anfang und Ende aller Sitte ist. So lange das Volk nicht aus<lb/>
der häuslichen Unsauberkeit gerissen wird, in der es aus Unwissenheit versunken<lb/>
bleibt, dürft Ihr nicht hoffen, es empfänglicher zu stimmen für gewisse Skrupel</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0512] wendbar, die von bürgerlicher Gleichheit ausgehend, in stufenweisen Prüfungen die höherstehenden, zur Gedankenarbeit bestimmten Intelligenzen fortwährend zu erwählen und den andern mit den speciellen Gewerbskenntnissen allgemeine Lehren zu geben verstünde, die sie mit einem geistigen Band an das Gesammtleben knüpften? Das Volk will nicht, wie man vorgibt, Ueppigkeit und Liederlichkeit im Mü¬ ßiggange; es verlangt Wohlsein durch Arbeit erkauft; und wenn es heutigen Ta¬ ges Faulheit, Leichtsinn, Ausschweifungen zeigt, welche für oberflächliche Urtheile seinen erbärmlichen Zustand erklären und rechtfertigen, so geschieht es mir, weil sein angestrengtester Fleiß sich ungenügend erweist und nur eine flüchtige, kaum merkbare Erleichterung den Leiden bringt, für die es keine Abhilfe gibt. Was will es heißen, einen Tag sich besser befinden, für Jemand, der ein ganzes Leben voll Jammer vor sich hat? Dies ist, vielleicht nicht die Reflexion, aber doch sicher der Instinkt, welcher den Mann vom Volke in die Herberge treibt, wo er, um mit einem Moralisten zu reden, Vergessen seiner Schmerzen trinkt. Ihr sprecht: „Das Volk ist ein verdummtes, oft ein reißendes Thier," und erwägt nicht, daß Ihr, bemüht Eure Gleichartigkeit zu entschuldigen, Euch noch strafbarer zeigt. In der That, was den Sohn des Volkes so mitleidwürdig macht, ist weniger, was er als Mensch leidet, als die Unmöglichkeit, in der er sich nieist sieht, Mensch zu werden. Welch niederdrückendes Schauspiel diese unzähligen Massen, durch die Schuld einer egoistischen oder zerstreuten Gesellschaft der Vor¬ rechte der Humanität beraubt, mit denen sie so gut wie Jeder von uns geboren werden? Zweifelt Ihr, daß der Proletarier eine zum Lieben empfängliche Seele habe und sähig das Schlimme vom Guten, das Wahre vom Falschen zu unter» scheiden? Woher kommt es also, daß er ein Thier bleibt und daß Ihr nur Wi¬ derwillen vor ihm empfindet? Fragt Euer Gewissen und antwortet. Wenn Ihr dem Volke häusliche Tugend predigen wollt, so beginnt damit, daß Ihr Holz auf seinem Heerde anzündet; dann könnt Ihr nach Belieben beredt sein. Wenn Ihr ihm Familienfreuden rühmen wollt, so bringt seinen Kindern Brot, damit ihr Geschrei Eure Vorträge nicht unterbricht, und versäumt uicht Scheiben in seine Fenster setzen zu lassen, aus Furcht, der Nordwind möchte mit Euch in die Stube dringen und die evangelistische Moral auf Euren Lippen ge¬ frieren. — Die Gewohnheit der Reinlichkeit ist eines der ersten Zeichen jener Selbst¬ achtung , welche Anfang und Ende aller Sitte ist. So lange das Volk nicht aus der häuslichen Unsauberkeit gerissen wird, in der es aus Unwissenheit versunken bleibt, dürft Ihr nicht hoffen, es empfänglicher zu stimmen für gewisse Skrupel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/512
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/512>, abgerufen am 17.06.2024.