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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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die Trunkenheit vergifteter Getränke seiner harrt? Welchen Einflüssen unterliegt
er nicht bei diesen Bällen, wo eine schlüpfrige Musik zu schamlosen Tänzen auf¬
fordert, und selbst bis in unsern Kirchen, wo der verdorbene Geschmack eines,
den schlichtesten Lehren der Aesthetik fremden Tempeldienstes, die strenge Schön¬
heit des alten Gepränges durch ich weiß nicht welches frevelhafte Bastardgemisch der
Sinnlichkeit des Jahrhunderts mit den Mysterien der göttlichen Liebe ersetzt hat?




Mail erkennt bei uns nicht genug die Macht der Musik. Man scheint nicht
zu fassen, welchen Einfluß sie auf die Sitten übt. Wir haben das schone Gefühl
davon verloren, das die alten Völker besaßen, die Aegyptier z.B., die bei stren¬
ger Strafe verboten, die der Isis zugeschriebenen Gesänge zu ändern; die Grie¬
chen vor allem, wie man aus Platons erhabenen Gesprächen ersieht, wo er die
Gesetze der Choräa in ihrer Beziehung zur Moral sucht und dem Tonkünstler
räth, in seinen Akkorden den Charakter einer mäßigen, starken und tugendhaften
Seele auszudrücken.




Etwas jedoch sollte jetzt, wo man sich so mit Recht mit dem Schicksal des
Volkes beschäftigt, der Musik el" sehr großes Gewicht in unsern Augen geben.
Die Musik ist unter allen Künsten die des Volkes, der Arbeiter kennt keine audern;
sie auszuüben bedarf es der Muße, und die Muße fehlt ihm. Aber die Musik,
die sanfte unsichtbare Gefährtin, verbündet sich der Arbeit, mindert deren Einför¬
migkeit, lindert ihre Mühen. Der Rythmus, der Takt verleihen den physischen
Bewegungen eine Art höhere Würde, durch die sie sich des thierischen entäußern
und gleichsam menschlichen Charakter aneignen. Der Ackersmann singt bei seiner
Furche, um den Eifer seiner Stiere und den eignen Muth wieder anzufachen; der
Weber singt an seinem Webstuhle, dessen Rasseln Harmonie wird; der Schiffer
singt bei seinem Nuder und verfolgt wohlgefällig den weithin über die schwei¬
gende Fluth gleitenden Klang seiner Stimme; Alle, bewußtlos selbst, sind von
einem friedlichen Zauber erfüllt , der sie auf Augenblicke mindestens mit der Härte
ihres Schicksals versöhnt.




Ich wollte, daß unsere bis zum Uebermaße geglätteten und schon etwas ver-
Ichäumten Sprachen sich wieder in die Volksrede tauchten. Sie fänden dort Laute,
welche sie jetzt entbehren und die von der sinnigsten Kunst nicht ersetzt werden.
Die italienische Sprache, ursprünglich vom Hofe entstammt, wurde linKim co,ti.
iziilnkt genannt. Man kann fast dasselbe von den meisten europäischen Sprachen
sagen, welche sich so sehr vom Volke entfernten. Sie verloren ihr offenes Wesen,
indem sie sich einen edleren, aber gezwungeneren Schritt einlernten, und es geschieht
uns zuweilen, daß wir in Bewunderung ihrer tadellosen Haltung, die minder
correcte Freiheit ihrer ursprünglichen Grazie zurückwünschen.




die Trunkenheit vergifteter Getränke seiner harrt? Welchen Einflüssen unterliegt
er nicht bei diesen Bällen, wo eine schlüpfrige Musik zu schamlosen Tänzen auf¬
fordert, und selbst bis in unsern Kirchen, wo der verdorbene Geschmack eines,
den schlichtesten Lehren der Aesthetik fremden Tempeldienstes, die strenge Schön¬
heit des alten Gepränges durch ich weiß nicht welches frevelhafte Bastardgemisch der
Sinnlichkeit des Jahrhunderts mit den Mysterien der göttlichen Liebe ersetzt hat?




Mail erkennt bei uns nicht genug die Macht der Musik. Man scheint nicht
zu fassen, welchen Einfluß sie auf die Sitten übt. Wir haben das schone Gefühl
davon verloren, das die alten Völker besaßen, die Aegyptier z.B., die bei stren¬
ger Strafe verboten, die der Isis zugeschriebenen Gesänge zu ändern; die Grie¬
chen vor allem, wie man aus Platons erhabenen Gesprächen ersieht, wo er die
Gesetze der Choräa in ihrer Beziehung zur Moral sucht und dem Tonkünstler
räth, in seinen Akkorden den Charakter einer mäßigen, starken und tugendhaften
Seele auszudrücken.




Etwas jedoch sollte jetzt, wo man sich so mit Recht mit dem Schicksal des
Volkes beschäftigt, der Musik el» sehr großes Gewicht in unsern Augen geben.
Die Musik ist unter allen Künsten die des Volkes, der Arbeiter kennt keine audern;
sie auszuüben bedarf es der Muße, und die Muße fehlt ihm. Aber die Musik,
die sanfte unsichtbare Gefährtin, verbündet sich der Arbeit, mindert deren Einför¬
migkeit, lindert ihre Mühen. Der Rythmus, der Takt verleihen den physischen
Bewegungen eine Art höhere Würde, durch die sie sich des thierischen entäußern
und gleichsam menschlichen Charakter aneignen. Der Ackersmann singt bei seiner
Furche, um den Eifer seiner Stiere und den eignen Muth wieder anzufachen; der
Weber singt an seinem Webstuhle, dessen Rasseln Harmonie wird; der Schiffer
singt bei seinem Nuder und verfolgt wohlgefällig den weithin über die schwei¬
gende Fluth gleitenden Klang seiner Stimme; Alle, bewußtlos selbst, sind von
einem friedlichen Zauber erfüllt , der sie auf Augenblicke mindestens mit der Härte
ihres Schicksals versöhnt.




Ich wollte, daß unsere bis zum Uebermaße geglätteten und schon etwas ver-
Ichäumten Sprachen sich wieder in die Volksrede tauchten. Sie fänden dort Laute,
welche sie jetzt entbehren und die von der sinnigsten Kunst nicht ersetzt werden.
Die italienische Sprache, ursprünglich vom Hofe entstammt, wurde linKim co,ti.
iziilnkt genannt. Man kann fast dasselbe von den meisten europäischen Sprachen
sagen, welche sich so sehr vom Volke entfernten. Sie verloren ihr offenes Wesen,
indem sie sich einen edleren, aber gezwungeneren Schritt einlernten, und es geschieht
uns zuweilen, daß wir in Bewunderung ihrer tadellosen Haltung, die minder
correcte Freiheit ihrer ursprünglichen Grazie zurückwünschen.




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[0515] die Trunkenheit vergifteter Getränke seiner harrt? Welchen Einflüssen unterliegt er nicht bei diesen Bällen, wo eine schlüpfrige Musik zu schamlosen Tänzen auf¬ fordert, und selbst bis in unsern Kirchen, wo der verdorbene Geschmack eines, den schlichtesten Lehren der Aesthetik fremden Tempeldienstes, die strenge Schön¬ heit des alten Gepränges durch ich weiß nicht welches frevelhafte Bastardgemisch der Sinnlichkeit des Jahrhunderts mit den Mysterien der göttlichen Liebe ersetzt hat? Mail erkennt bei uns nicht genug die Macht der Musik. Man scheint nicht zu fassen, welchen Einfluß sie auf die Sitten übt. Wir haben das schone Gefühl davon verloren, das die alten Völker besaßen, die Aegyptier z.B., die bei stren¬ ger Strafe verboten, die der Isis zugeschriebenen Gesänge zu ändern; die Grie¬ chen vor allem, wie man aus Platons erhabenen Gesprächen ersieht, wo er die Gesetze der Choräa in ihrer Beziehung zur Moral sucht und dem Tonkünstler räth, in seinen Akkorden den Charakter einer mäßigen, starken und tugendhaften Seele auszudrücken. Etwas jedoch sollte jetzt, wo man sich so mit Recht mit dem Schicksal des Volkes beschäftigt, der Musik el» sehr großes Gewicht in unsern Augen geben. Die Musik ist unter allen Künsten die des Volkes, der Arbeiter kennt keine audern; sie auszuüben bedarf es der Muße, und die Muße fehlt ihm. Aber die Musik, die sanfte unsichtbare Gefährtin, verbündet sich der Arbeit, mindert deren Einför¬ migkeit, lindert ihre Mühen. Der Rythmus, der Takt verleihen den physischen Bewegungen eine Art höhere Würde, durch die sie sich des thierischen entäußern und gleichsam menschlichen Charakter aneignen. Der Ackersmann singt bei seiner Furche, um den Eifer seiner Stiere und den eignen Muth wieder anzufachen; der Weber singt an seinem Webstuhle, dessen Rasseln Harmonie wird; der Schiffer singt bei seinem Nuder und verfolgt wohlgefällig den weithin über die schwei¬ gende Fluth gleitenden Klang seiner Stimme; Alle, bewußtlos selbst, sind von einem friedlichen Zauber erfüllt , der sie auf Augenblicke mindestens mit der Härte ihres Schicksals versöhnt. Ich wollte, daß unsere bis zum Uebermaße geglätteten und schon etwas ver- Ichäumten Sprachen sich wieder in die Volksrede tauchten. Sie fänden dort Laute, welche sie jetzt entbehren und die von der sinnigsten Kunst nicht ersetzt werden. Die italienische Sprache, ursprünglich vom Hofe entstammt, wurde linKim co,ti. iziilnkt genannt. Man kann fast dasselbe von den meisten europäischen Sprachen sagen, welche sich so sehr vom Volke entfernten. Sie verloren ihr offenes Wesen, indem sie sich einen edleren, aber gezwungeneren Schritt einlernten, und es geschieht uns zuweilen, daß wir in Bewunderung ihrer tadellosen Haltung, die minder correcte Freiheit ihrer ursprünglichen Grazie zurückwünschen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/515>, abgerufen am 26.05.2024.