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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Die Ueberwindung cmtiqnirter Standpunkte erfolgte damals so schnell, daß
ein Freund nach dreitägiger Abwesenheit mich fragte: wie viel Staudpunkte habt
ihr denn in der Zeit überwunden und wie weit ist jetzt die Menschheit?

L. Buhl verfolgte die Constituirung der Anarchie im Detail; er predigte
in populären Schriften die Desorganisation; Edgar Bauer, der jüngere Bruder
der Kritik, der später in den Epigonen seine Reise mit den Zuchthaussträflingen
nach Magdeburg in einer so reizenden Naivetät geschildert hat, daß man glauben
möchte, er habe sich nie in einer andern Gesellschaft bewegt, nahm damals eine
feierliche Miene an und predigte die Unsittlichkeit als sociale Pflicht. In der
Kneipe dieser "Freien" wurde dann anch diese Unsittlichkeit praktisch geübt; man
unterredete sich in Cynismen, prügelte sich zuweilen und trank mit unverheirathe-
ten Frauen Bier; nicht ans naiver Lascivität, sondern pedantisch, man glaubte
es sich, dem Geist und der Kritik schuldig zu sein.

Max Stirn er, ein Freund Bauer's, überwand dann den letzten Standpunkt,
den Geist, die Menschheit. Er schrieb ein Buch: "der Einzige und sein Eigen--
thun," in welchem er nachwies, daß auch noch die Kritik zu den Verrücktheiten
gehöre, die sie selber überwunden; daß die wahre Theorie sei: Leben und leben
lassen! Die wahre Devise das freie Wort: Ich hab' meine Sache auf Nichts
gestellt!

Und das schrieb nicht ein junger, impertinenter Bonvivant, sondern ein
schwerfälliger Doctrinär, der sich gleichsam dazu zwang, impertinent zu sein.

Ein eigenes Beispiel dieser sophistischen Bildung ist Herr Julius, gleichfalls
ein Berliner Kind. Er fing, wie billig, mit der Theologie an; überwand dieselbe
durch den Formalismus der Schule und warf sich auf Staatsökonomie. Man
übertrug ihm in den Zeiten der großen kritischen Zuckungen Deutschlands die Redac¬
tion der Leipziger allgemeinen Zeitung. Er machte daraus ein ziemlich bissiges
Organ der liberalen Partei, das sich mehr auf Persönlichkeiten als ans Principien
einließ. Die preußische Bureaukratie wurde alle Augenblicke scandalisirt, alle Ge¬
heimnisse ihrer Bureaus, die sie mitunter noch selber nicht kannte, hier vor dem
ganzen Pöbel profanirt zu sehen. Das konnte sie nicht dulden; sie verbot das
Blatt, Herr Brockhaus schickte seinen Redacteur fort und Herr Julins wurde aus
einem politischen Charakter wieder ein abstracter Literat. Sein Hauptschlachtfeld
war die Wigand'sche Vierteljahrschrift, später die Epigonen; er überwand in der¬
selben, gleichzeitig mit seinen Berliner Meinungsgenossen, einen Standpunkt nach
dem andern -- und es ist nicht zu läugnen, oft mit mehr kritischem Geschick und
einer größern Sachkenntniß, als der Prophet von der Spree.

Mittlerweile ging die Zeit aus dem politischen Idealismus in die Praxis
über, sie fing an, sich über materielle Fragen den Kopf zu zerbrechen, die Com-
Mmisten und sogenannten Socialisten tauchten auf. Man kam zu der Ansicht, es käme


Die Ueberwindung cmtiqnirter Standpunkte erfolgte damals so schnell, daß
ein Freund nach dreitägiger Abwesenheit mich fragte: wie viel Staudpunkte habt
ihr denn in der Zeit überwunden und wie weit ist jetzt die Menschheit?

L. Buhl verfolgte die Constituirung der Anarchie im Detail; er predigte
in populären Schriften die Desorganisation; Edgar Bauer, der jüngere Bruder
der Kritik, der später in den Epigonen seine Reise mit den Zuchthaussträflingen
nach Magdeburg in einer so reizenden Naivetät geschildert hat, daß man glauben
möchte, er habe sich nie in einer andern Gesellschaft bewegt, nahm damals eine
feierliche Miene an und predigte die Unsittlichkeit als sociale Pflicht. In der
Kneipe dieser „Freien" wurde dann anch diese Unsittlichkeit praktisch geübt; man
unterredete sich in Cynismen, prügelte sich zuweilen und trank mit unverheirathe-
ten Frauen Bier; nicht ans naiver Lascivität, sondern pedantisch, man glaubte
es sich, dem Geist und der Kritik schuldig zu sein.

Max Stirn er, ein Freund Bauer's, überwand dann den letzten Standpunkt,
den Geist, die Menschheit. Er schrieb ein Buch: „der Einzige und sein Eigen--
thun," in welchem er nachwies, daß auch noch die Kritik zu den Verrücktheiten
gehöre, die sie selber überwunden; daß die wahre Theorie sei: Leben und leben
lassen! Die wahre Devise das freie Wort: Ich hab' meine Sache auf Nichts
gestellt!

Und das schrieb nicht ein junger, impertinenter Bonvivant, sondern ein
schwerfälliger Doctrinär, der sich gleichsam dazu zwang, impertinent zu sein.

Ein eigenes Beispiel dieser sophistischen Bildung ist Herr Julius, gleichfalls
ein Berliner Kind. Er fing, wie billig, mit der Theologie an; überwand dieselbe
durch den Formalismus der Schule und warf sich auf Staatsökonomie. Man
übertrug ihm in den Zeiten der großen kritischen Zuckungen Deutschlands die Redac¬
tion der Leipziger allgemeinen Zeitung. Er machte daraus ein ziemlich bissiges
Organ der liberalen Partei, das sich mehr auf Persönlichkeiten als ans Principien
einließ. Die preußische Bureaukratie wurde alle Augenblicke scandalisirt, alle Ge¬
heimnisse ihrer Bureaus, die sie mitunter noch selber nicht kannte, hier vor dem
ganzen Pöbel profanirt zu sehen. Das konnte sie nicht dulden; sie verbot das
Blatt, Herr Brockhaus schickte seinen Redacteur fort und Herr Julins wurde aus
einem politischen Charakter wieder ein abstracter Literat. Sein Hauptschlachtfeld
war die Wigand'sche Vierteljahrschrift, später die Epigonen; er überwand in der¬
selben, gleichzeitig mit seinen Berliner Meinungsgenossen, einen Standpunkt nach
dem andern — und es ist nicht zu läugnen, oft mit mehr kritischem Geschick und
einer größern Sachkenntniß, als der Prophet von der Spree.

Mittlerweile ging die Zeit aus dem politischen Idealismus in die Praxis
über, sie fing an, sich über materielle Fragen den Kopf zu zerbrechen, die Com-
Mmisten und sogenannten Socialisten tauchten auf. Man kam zu der Ansicht, es käme


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/32>, abgerufen am 24.05.2024.