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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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für die souveräne Ironie einer freien Bildung. -- Diese Auffassung behält eine
gewisse Anmuth, so lange sie init der liebenswürdigen Frivolität eines Voltaire
gepaart ist; wenn man aber Ernst damit macht und mit pedantischer Gewissen¬
haftigkeit die Sinnlosigkeit in eine Art System redigirt, so fällt ihr einziges Ver¬
dienst zu Boden, Das ist in der sogenannten fatalistischen Schule der
französischen Geschichtschreibung geschehen. Wenn z. B. Mignet in seiner Re-
volutionsgeschichte bei jeder neuen Form des Wahnsinns, die er darzustellen
hat, die Nothwendigkeit dieser Erscheinung nachzuweisen sucht, so ist das nicht
die geistige Nothwendigkeit-, welche die deutsche Philosophie an die Stelle der
alten christlichen Vorsehung zu setzen strebt, die Kraft der Vernunft, die sich in
der Geschichte realisiren mich, weil die Menschheit ihr einziger ebenbürtiger Aus¬
druck ist, sondern die awmistische Nothwendigkeit des schlechten Zufalls, der über
die Menschen triumphirt, weil das, worauf sie stolz siud, ihr Idealismus, nichts
andres ist, als eine veränderliche Combination eben jenes souveränen Zufalls.

Die eruste Erschütterung, die im Bewußtsein der Zeit im Wendepunkt dieses
Jahrhunderts vor sich ging, und deren krankhafte Symptome in der sogenannten
Romantik zum Vorschein kamen, hat aus die Geschichtschreibung einen doppelten
Einfluß ausgeübt: sie bat einmal den Sinn für das Eoncrete, das Zusammen¬
gesetzte, das Irrationelle und Einzelne geschärft, sie hat ihr andererseits größere
Perspektiven geöffnet. -- Der historische Roman hat in diesem Sinne nicht minder
ans die Geschichtschreibung eingewirkt, als die ("eschichtSplulosophie, und beide
Wirkungen greife" in einander.

Walter Scott, der Schöpfer und zugleich der Vollender des historischen
Romans, hat ans das wissenschaftliche Publikum uicht minder eingewirkt, als
ans die gewöhnlichen Romanleser. Man bat von ihm gelernt, daß in dem
Studiuiu einer Zeit noch vieles Andere z" suchen sei, als die bloßen Protokolle
über die sogenannten großen Ereignisse. Man hat sich für die Scene der Hand¬
lung, die Localität, für die Sitten der Zeit bis auf das Eostum herab, das
wenigstens für die Phantasie nicht unwichtig ist, für ihre Redeweise, die bestimmte
Farbe der Sprache und der Begriffe u. f. in. zu interessiren angefangen. Diese
Vertiefung in das Detail hat oft geung die Einheit des Gesichtspunkts gestört --
darum, ist z. B. W. Scott selber nie ein bedeuteuder Geschichtschreiber geworden.--
aber sie hat wenigstens dazu beigetragen, der Historie eine objectivere Grundlage
zu gebe", als jeuer oberflächliche, dünkelhafte Rationalismus, der in dem Strom
der Zeiten ewig nur sein eigen Bild sieht.

Mit diesen Aeußerlichkeiten hing daS Eingehen auf ein anderes Detail zu¬
sammen, daS ungleich wichtiger ist. Sobald sich die Phantasie einmal daran ge¬
wöhnt, fremde Trachten, fremde klimatische und geographische Verhältnisse, eine
ungeläusige Redeweise sich vorzustellen, begnügt sie sich nicht mehr mit der bloß
abstracten Kenntnißnahme der handelnden Personen, daß sie das nud das gethan


für die souveräne Ironie einer freien Bildung. — Diese Auffassung behält eine
gewisse Anmuth, so lange sie init der liebenswürdigen Frivolität eines Voltaire
gepaart ist; wenn man aber Ernst damit macht und mit pedantischer Gewissen¬
haftigkeit die Sinnlosigkeit in eine Art System redigirt, so fällt ihr einziges Ver¬
dienst zu Boden, Das ist in der sogenannten fatalistischen Schule der
französischen Geschichtschreibung geschehen. Wenn z. B. Mignet in seiner Re-
volutionsgeschichte bei jeder neuen Form des Wahnsinns, die er darzustellen
hat, die Nothwendigkeit dieser Erscheinung nachzuweisen sucht, so ist das nicht
die geistige Nothwendigkeit-, welche die deutsche Philosophie an die Stelle der
alten christlichen Vorsehung zu setzen strebt, die Kraft der Vernunft, die sich in
der Geschichte realisiren mich, weil die Menschheit ihr einziger ebenbürtiger Aus¬
druck ist, sondern die awmistische Nothwendigkeit des schlechten Zufalls, der über
die Menschen triumphirt, weil das, worauf sie stolz siud, ihr Idealismus, nichts
andres ist, als eine veränderliche Combination eben jenes souveränen Zufalls.

Die eruste Erschütterung, die im Bewußtsein der Zeit im Wendepunkt dieses
Jahrhunderts vor sich ging, und deren krankhafte Symptome in der sogenannten
Romantik zum Vorschein kamen, hat aus die Geschichtschreibung einen doppelten
Einfluß ausgeübt: sie bat einmal den Sinn für das Eoncrete, das Zusammen¬
gesetzte, das Irrationelle und Einzelne geschärft, sie hat ihr andererseits größere
Perspektiven geöffnet. — Der historische Roman hat in diesem Sinne nicht minder
ans die Geschichtschreibung eingewirkt, als die («eschichtSplulosophie, und beide
Wirkungen greife» in einander.

Walter Scott, der Schöpfer und zugleich der Vollender des historischen
Romans, hat ans das wissenschaftliche Publikum uicht minder eingewirkt, als
ans die gewöhnlichen Romanleser. Man bat von ihm gelernt, daß in dem
Studiuiu einer Zeit noch vieles Andere z» suchen sei, als die bloßen Protokolle
über die sogenannten großen Ereignisse. Man hat sich für die Scene der Hand¬
lung, die Localität, für die Sitten der Zeit bis auf das Eostum herab, das
wenigstens für die Phantasie nicht unwichtig ist, für ihre Redeweise, die bestimmte
Farbe der Sprache und der Begriffe u. f. in. zu interessiren angefangen. Diese
Vertiefung in das Detail hat oft geung die Einheit des Gesichtspunkts gestört —
darum, ist z. B. W. Scott selber nie ein bedeuteuder Geschichtschreiber geworden.—
aber sie hat wenigstens dazu beigetragen, der Historie eine objectivere Grundlage
zu gebe», als jeuer oberflächliche, dünkelhafte Rationalismus, der in dem Strom
der Zeiten ewig nur sein eigen Bild sieht.

Mit diesen Aeußerlichkeiten hing daS Eingehen auf ein anderes Detail zu¬
sammen, daS ungleich wichtiger ist. Sobald sich die Phantasie einmal daran ge¬
wöhnt, fremde Trachten, fremde klimatische und geographische Verhältnisse, eine
ungeläusige Redeweise sich vorzustellen, begnügt sie sich nicht mehr mit der bloß
abstracten Kenntnißnahme der handelnden Personen, daß sie das nud das gethan


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[0301] für die souveräne Ironie einer freien Bildung. — Diese Auffassung behält eine gewisse Anmuth, so lange sie init der liebenswürdigen Frivolität eines Voltaire gepaart ist; wenn man aber Ernst damit macht und mit pedantischer Gewissen¬ haftigkeit die Sinnlosigkeit in eine Art System redigirt, so fällt ihr einziges Ver¬ dienst zu Boden, Das ist in der sogenannten fatalistischen Schule der französischen Geschichtschreibung geschehen. Wenn z. B. Mignet in seiner Re- volutionsgeschichte bei jeder neuen Form des Wahnsinns, die er darzustellen hat, die Nothwendigkeit dieser Erscheinung nachzuweisen sucht, so ist das nicht die geistige Nothwendigkeit-, welche die deutsche Philosophie an die Stelle der alten christlichen Vorsehung zu setzen strebt, die Kraft der Vernunft, die sich in der Geschichte realisiren mich, weil die Menschheit ihr einziger ebenbürtiger Aus¬ druck ist, sondern die awmistische Nothwendigkeit des schlechten Zufalls, der über die Menschen triumphirt, weil das, worauf sie stolz siud, ihr Idealismus, nichts andres ist, als eine veränderliche Combination eben jenes souveränen Zufalls. Die eruste Erschütterung, die im Bewußtsein der Zeit im Wendepunkt dieses Jahrhunderts vor sich ging, und deren krankhafte Symptome in der sogenannten Romantik zum Vorschein kamen, hat aus die Geschichtschreibung einen doppelten Einfluß ausgeübt: sie bat einmal den Sinn für das Eoncrete, das Zusammen¬ gesetzte, das Irrationelle und Einzelne geschärft, sie hat ihr andererseits größere Perspektiven geöffnet. — Der historische Roman hat in diesem Sinne nicht minder ans die Geschichtschreibung eingewirkt, als die («eschichtSplulosophie, und beide Wirkungen greife» in einander. Walter Scott, der Schöpfer und zugleich der Vollender des historischen Romans, hat ans das wissenschaftliche Publikum uicht minder eingewirkt, als ans die gewöhnlichen Romanleser. Man bat von ihm gelernt, daß in dem Studiuiu einer Zeit noch vieles Andere z» suchen sei, als die bloßen Protokolle über die sogenannten großen Ereignisse. Man hat sich für die Scene der Hand¬ lung, die Localität, für die Sitten der Zeit bis auf das Eostum herab, das wenigstens für die Phantasie nicht unwichtig ist, für ihre Redeweise, die bestimmte Farbe der Sprache und der Begriffe u. f. in. zu interessiren angefangen. Diese Vertiefung in das Detail hat oft geung die Einheit des Gesichtspunkts gestört — darum, ist z. B. W. Scott selber nie ein bedeuteuder Geschichtschreiber geworden.— aber sie hat wenigstens dazu beigetragen, der Historie eine objectivere Grundlage zu gebe», als jeuer oberflächliche, dünkelhafte Rationalismus, der in dem Strom der Zeiten ewig nur sein eigen Bild sieht. Mit diesen Aeußerlichkeiten hing daS Eingehen auf ein anderes Detail zu¬ sammen, daS ungleich wichtiger ist. Sobald sich die Phantasie einmal daran ge¬ wöhnt, fremde Trachten, fremde klimatische und geographische Verhältnisse, eine ungeläusige Redeweise sich vorzustellen, begnügt sie sich nicht mehr mit der bloß abstracten Kenntnißnahme der handelnden Personen, daß sie das nud das gethan

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/301>, abgerufen am 17.06.2024.