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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Unter den Bauemschulen des Königreichs sind freilich einige traurige Schöpfun¬
gen , an denen nichts weiter anzuerkennen ist als der gute Wille. Die des Herrn
Halpert z. B. ist vom Frühjahr bis Herbst geschlossen. Das Schulhaus ist die
erbärmlichste hölzerne Hütte und der Lehrer, ein alter verarmter deutscher Hand¬
werker, muß im Sommer sein Leben dnrch Schuhflicken und Kratzbürstenmachen
zu erhalten suchen. Ja zum Betteln sieht er sich bisweilen gezwungen, wenigstens
sprach er mich, den Fremden, kläglich an. Damals hatte ihn seine Armuth,
und noch der Jammer um seinen Sohn, den man zum Militair genommen, fast
bis zum Selbstmorde gebracht. Sein ganzer Gehalt als Lehrer besteht in 25 pol¬
nischen Gulden (4 Thlr. 4 Ggr.) und zehn Scheffel Kartoffeln; außerdem müssen
ihm von deu Bauern für jedes Kind jährlich W Pfennige bezahlt werden, die er
jedoch nur in Kartoffeln erhält, da der polnische Bauer niemals baares Geld
besitzt. Durchschnittlich hat er 20 Kinder in der Schule, so daß sein Jahrgehalt
auf 7 Thlr. zu veranschlagen ist. Ich glaube, daß es für einen solchen Schul¬
lehrer, und wäre er der genügsamste Mensch, doch viel angenehmer ist zu sterben
als zu leben.

In Südrußland siud einige Dorfschulen das Werk von Privatpersonen,
welche die Negierung nicht hinderte, da sie von denselben keinen großen Einfluß
befürchtete. Sie sind nach dem Muster der Schulen in den deutschen Kolonien
eingerichtet und die des Grasen Potocki ist als die beste zu bezeichnen; auch in
Kleiurußlaud haben --ich glaube drei -- Edelleute ihren Dörfern Schulen ge¬
schenkt, aber dies sind auch so ziemlich alle Dorfschulen Rußlands, denn in Gro߬
rußland ist schwerlich eine Dorfschule zu finden und gewiß noch viel weniger im
asiatischen Rußland.

Diese Anfänge von bäuerlichen Schulen berechtigen aber kaum zu der Hoff¬
nung, daß sich ein allgemeines Volksschulwesen bilden werde, denn die Schulen,
mit Ausnahme derer in den Ostseeprovinzen sind vollkommen freiwillige Privat-
unternehmungen, deren Fortbestehen von der Laune des Unternehmers oder dessen
Erben abhängt und durchaus nicht gesichert ist. Da aus den Schulen kein mate¬
rieller Gewinn für den Grundherrn entspringt, so läßt sich eher glauben, daß die
vorhandenen Dorfschulen wieder eingehen als sich vermehren werden, zumal das
Verlangen nach Dorfschulen vou deu intelligenteren Städten ausging, eine Art
Modesache war, und jetzt unter deu politische" Ereignissen des Auslandes gänzlich
verstummt ist. Gegenwärtig kümmert sich in Rußland kein Mensch um den Bauern¬
stand, geschweige um Schulen für denselben; und das ist der Regierung lieb.
Hätte sie den Bitten um die gute Sache gern Gehör schenken wollen, so würde
sich dies jedenfalls zuerst aus den Krongütern bewiesen haben; allein von zehn
Millionen wirklichen Kronbauern (es ist hier ein Unterschied zu machen) kann
keiner lesen und hat keiner die Hoffnung, es je in seinem Dorfe zu lernen.
Wären der Regierung ihre Mittel zu Einrichtung eines allgemeinen Volksschul-


Unter den Bauemschulen des Königreichs sind freilich einige traurige Schöpfun¬
gen , an denen nichts weiter anzuerkennen ist als der gute Wille. Die des Herrn
Halpert z. B. ist vom Frühjahr bis Herbst geschlossen. Das Schulhaus ist die
erbärmlichste hölzerne Hütte und der Lehrer, ein alter verarmter deutscher Hand¬
werker, muß im Sommer sein Leben dnrch Schuhflicken und Kratzbürstenmachen
zu erhalten suchen. Ja zum Betteln sieht er sich bisweilen gezwungen, wenigstens
sprach er mich, den Fremden, kläglich an. Damals hatte ihn seine Armuth,
und noch der Jammer um seinen Sohn, den man zum Militair genommen, fast
bis zum Selbstmorde gebracht. Sein ganzer Gehalt als Lehrer besteht in 25 pol¬
nischen Gulden (4 Thlr. 4 Ggr.) und zehn Scheffel Kartoffeln; außerdem müssen
ihm von deu Bauern für jedes Kind jährlich W Pfennige bezahlt werden, die er
jedoch nur in Kartoffeln erhält, da der polnische Bauer niemals baares Geld
besitzt. Durchschnittlich hat er 20 Kinder in der Schule, so daß sein Jahrgehalt
auf 7 Thlr. zu veranschlagen ist. Ich glaube, daß es für einen solchen Schul¬
lehrer, und wäre er der genügsamste Mensch, doch viel angenehmer ist zu sterben
als zu leben.

In Südrußland siud einige Dorfschulen das Werk von Privatpersonen,
welche die Negierung nicht hinderte, da sie von denselben keinen großen Einfluß
befürchtete. Sie sind nach dem Muster der Schulen in den deutschen Kolonien
eingerichtet und die des Grasen Potocki ist als die beste zu bezeichnen; auch in
Kleiurußlaud haben —ich glaube drei — Edelleute ihren Dörfern Schulen ge¬
schenkt, aber dies sind auch so ziemlich alle Dorfschulen Rußlands, denn in Gro߬
rußland ist schwerlich eine Dorfschule zu finden und gewiß noch viel weniger im
asiatischen Rußland.

Diese Anfänge von bäuerlichen Schulen berechtigen aber kaum zu der Hoff¬
nung, daß sich ein allgemeines Volksschulwesen bilden werde, denn die Schulen,
mit Ausnahme derer in den Ostseeprovinzen sind vollkommen freiwillige Privat-
unternehmungen, deren Fortbestehen von der Laune des Unternehmers oder dessen
Erben abhängt und durchaus nicht gesichert ist. Da aus den Schulen kein mate¬
rieller Gewinn für den Grundherrn entspringt, so läßt sich eher glauben, daß die
vorhandenen Dorfschulen wieder eingehen als sich vermehren werden, zumal das
Verlangen nach Dorfschulen vou deu intelligenteren Städten ausging, eine Art
Modesache war, und jetzt unter deu politische» Ereignissen des Auslandes gänzlich
verstummt ist. Gegenwärtig kümmert sich in Rußland kein Mensch um den Bauern¬
stand, geschweige um Schulen für denselben; und das ist der Regierung lieb.
Hätte sie den Bitten um die gute Sache gern Gehör schenken wollen, so würde
sich dies jedenfalls zuerst aus den Krongütern bewiesen haben; allein von zehn
Millionen wirklichen Kronbauern (es ist hier ein Unterschied zu machen) kann
keiner lesen und hat keiner die Hoffnung, es je in seinem Dorfe zu lernen.
Wären der Regierung ihre Mittel zu Einrichtung eines allgemeinen Volksschul-


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[0157] Unter den Bauemschulen des Königreichs sind freilich einige traurige Schöpfun¬ gen , an denen nichts weiter anzuerkennen ist als der gute Wille. Die des Herrn Halpert z. B. ist vom Frühjahr bis Herbst geschlossen. Das Schulhaus ist die erbärmlichste hölzerne Hütte und der Lehrer, ein alter verarmter deutscher Hand¬ werker, muß im Sommer sein Leben dnrch Schuhflicken und Kratzbürstenmachen zu erhalten suchen. Ja zum Betteln sieht er sich bisweilen gezwungen, wenigstens sprach er mich, den Fremden, kläglich an. Damals hatte ihn seine Armuth, und noch der Jammer um seinen Sohn, den man zum Militair genommen, fast bis zum Selbstmorde gebracht. Sein ganzer Gehalt als Lehrer besteht in 25 pol¬ nischen Gulden (4 Thlr. 4 Ggr.) und zehn Scheffel Kartoffeln; außerdem müssen ihm von deu Bauern für jedes Kind jährlich W Pfennige bezahlt werden, die er jedoch nur in Kartoffeln erhält, da der polnische Bauer niemals baares Geld besitzt. Durchschnittlich hat er 20 Kinder in der Schule, so daß sein Jahrgehalt auf 7 Thlr. zu veranschlagen ist. Ich glaube, daß es für einen solchen Schul¬ lehrer, und wäre er der genügsamste Mensch, doch viel angenehmer ist zu sterben als zu leben. In Südrußland siud einige Dorfschulen das Werk von Privatpersonen, welche die Negierung nicht hinderte, da sie von denselben keinen großen Einfluß befürchtete. Sie sind nach dem Muster der Schulen in den deutschen Kolonien eingerichtet und die des Grasen Potocki ist als die beste zu bezeichnen; auch in Kleiurußlaud haben —ich glaube drei — Edelleute ihren Dörfern Schulen ge¬ schenkt, aber dies sind auch so ziemlich alle Dorfschulen Rußlands, denn in Gro߬ rußland ist schwerlich eine Dorfschule zu finden und gewiß noch viel weniger im asiatischen Rußland. Diese Anfänge von bäuerlichen Schulen berechtigen aber kaum zu der Hoff¬ nung, daß sich ein allgemeines Volksschulwesen bilden werde, denn die Schulen, mit Ausnahme derer in den Ostseeprovinzen sind vollkommen freiwillige Privat- unternehmungen, deren Fortbestehen von der Laune des Unternehmers oder dessen Erben abhängt und durchaus nicht gesichert ist. Da aus den Schulen kein mate¬ rieller Gewinn für den Grundherrn entspringt, so läßt sich eher glauben, daß die vorhandenen Dorfschulen wieder eingehen als sich vermehren werden, zumal das Verlangen nach Dorfschulen vou deu intelligenteren Städten ausging, eine Art Modesache war, und jetzt unter deu politische» Ereignissen des Auslandes gänzlich verstummt ist. Gegenwärtig kümmert sich in Rußland kein Mensch um den Bauern¬ stand, geschweige um Schulen für denselben; und das ist der Regierung lieb. Hätte sie den Bitten um die gute Sache gern Gehör schenken wollen, so würde sich dies jedenfalls zuerst aus den Krongütern bewiesen haben; allein von zehn Millionen wirklichen Kronbauern (es ist hier ein Unterschied zu machen) kann keiner lesen und hat keiner die Hoffnung, es je in seinem Dorfe zu lernen. Wären der Regierung ihre Mittel zu Einrichtung eines allgemeinen Volksschul-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/157>, abgerufen am 10.06.2024.