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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Reaction, oder, wie, sie sich positiv nennt, die Legitimität, die Sache dadurch
bessern wollte, daß sie erklärte: es darf nie ein Recht aufgehoben werden ohne
die Einwilligung sämmtlicher Betheiligten, nie ein Gesetz gegeben nnter dem
Eindruck einer herrschenden Stimmung, nie ein neuer Factor in den Staatsme-
chanismus eingeführt, ohne vorher erprobt zu sein -- so ist das freilich con-
sequent, aber sinnlos, weil es unmöglich ist. -- Begnüge sie sich damit, ein ge¬
wisses Maß in all diesen Dingen zu fordern, so ist dagegen nichts einzuwenden,
wir haben dann aber nicht mehr ein festes, geschlossenes Princip vor uns. --
Sehr praktisch dagegen, sehr gefährlich und vcrabschenungsivürdig wird das Prin¬
cip der Legitimität, wenn es sich so formulirt: Gesetze, die uuter dem Eindruck
einer herrschenden Stimmung gegeben siud, Gesetze nud Rechtsverhältnisse, bei
deren Begründung bestehende Rechte verletzt sind; legislative Factoren endlich,
die neu in'S Staatsleben eingeführt sind und altern Factoren den Umfang des
Einflusses und der Gewalt beschränken: -- alles dieses ist rechtlich unverbindlich^
und kann einseitig wieder aufgehoben werden, sobald die Gewalt dazu da ist. --
Es wird dies Princip von uuserer Reaction praktisch jeden Augenblick ausgeübt,
theoretisch hat mau es noch nicht gewagt, wenigstens in vollem Zusammenhang
auszusprechen.

Ich habe mich bis jetzt lediglich an das Thatsächliche gehalten. Ich gehe
jetzt aus den materiellen Inhalt des revolutionären und des legitimistischen
Princips ein. Was die charakteristische Lehre der Revolution, die Volkssou-
veränetät betrifft, so können wir uns rühmen, sie in den Zeiten des revo¬
lutionären Schwindels so energisch und unverdrossen bekämpft zu haben,
als es nur irgend von Seiten der Reaction geschehen konntet; wir haben
daher das Recht, in dem gegenwärtigen Augenblick, wo es ganz andere Geg¬
ner gibt, diesen Kampf bei Seite zu lassen. Jener Wahlspruch, den die
demokratischen Blätter an ihre Spitze zu stellen pflegen: "der Wille deö Ve>ils ist
Gesetz", ist vor allen Dingen darum eitel und abgeschmackt, weil das Volk als
solches keinen Willen hat, keinen haben kann; weil die Existenz des Volks als
einer moralischen, willens- und zurechnungsfähigen Persönlichkeit eine leere Fiction
ist. Der einzige Schriftsteller, der dieses Princip mit einer gewissen Tiefe durch¬
forscht bat, I. I. Rousseau, kommt daher in dem Bemühen, überhaupt nnr
willensfähige Volks-Individualitäten 'herzustellen, zu dem seltsamen Ausweg, die
Welt atomistisch in kleine souveräne Gemeinden zu spalten. Ju einer kleinen Ge¬
meinde, wo die Interessen und die Bildungsstufe vollkommen gleich ist, wird es
freilich möglich sein -- nicht nothwendig -- daß ein gemeinsamer Wille des Volks
sich bildet; in diesem Fall ist aber die demokratische Verfassung etwas Gleich-



') Ich verweise u. a. auf den Brief an Fröbel und de" Neupolitischen Katechismus,
Grcnzvot-n 1858, Hast ?8 und 33.

Reaction, oder, wie, sie sich positiv nennt, die Legitimität, die Sache dadurch
bessern wollte, daß sie erklärte: es darf nie ein Recht aufgehoben werden ohne
die Einwilligung sämmtlicher Betheiligten, nie ein Gesetz gegeben nnter dem
Eindruck einer herrschenden Stimmung, nie ein neuer Factor in den Staatsme-
chanismus eingeführt, ohne vorher erprobt zu sein — so ist das freilich con-
sequent, aber sinnlos, weil es unmöglich ist. — Begnüge sie sich damit, ein ge¬
wisses Maß in all diesen Dingen zu fordern, so ist dagegen nichts einzuwenden,
wir haben dann aber nicht mehr ein festes, geschlossenes Princip vor uns. —
Sehr praktisch dagegen, sehr gefährlich und vcrabschenungsivürdig wird das Prin¬
cip der Legitimität, wenn es sich so formulirt: Gesetze, die uuter dem Eindruck
einer herrschenden Stimmung gegeben siud, Gesetze nud Rechtsverhältnisse, bei
deren Begründung bestehende Rechte verletzt sind; legislative Factoren endlich,
die neu in'S Staatsleben eingeführt sind und altern Factoren den Umfang des
Einflusses und der Gewalt beschränken: — alles dieses ist rechtlich unverbindlich^
und kann einseitig wieder aufgehoben werden, sobald die Gewalt dazu da ist. —
Es wird dies Princip von uuserer Reaction praktisch jeden Augenblick ausgeübt,
theoretisch hat mau es noch nicht gewagt, wenigstens in vollem Zusammenhang
auszusprechen.

Ich habe mich bis jetzt lediglich an das Thatsächliche gehalten. Ich gehe
jetzt aus den materiellen Inhalt des revolutionären und des legitimistischen
Princips ein. Was die charakteristische Lehre der Revolution, die Volkssou-
veränetät betrifft, so können wir uns rühmen, sie in den Zeiten des revo¬
lutionären Schwindels so energisch und unverdrossen bekämpft zu haben,
als es nur irgend von Seiten der Reaction geschehen konntet; wir haben
daher das Recht, in dem gegenwärtigen Augenblick, wo es ganz andere Geg¬
ner gibt, diesen Kampf bei Seite zu lassen. Jener Wahlspruch, den die
demokratischen Blätter an ihre Spitze zu stellen pflegen: „der Wille deö Ve>ils ist
Gesetz", ist vor allen Dingen darum eitel und abgeschmackt, weil das Volk als
solches keinen Willen hat, keinen haben kann; weil die Existenz des Volks als
einer moralischen, willens- und zurechnungsfähigen Persönlichkeit eine leere Fiction
ist. Der einzige Schriftsteller, der dieses Princip mit einer gewissen Tiefe durch¬
forscht bat, I. I. Rousseau, kommt daher in dem Bemühen, überhaupt nnr
willensfähige Volks-Individualitäten 'herzustellen, zu dem seltsamen Ausweg, die
Welt atomistisch in kleine souveräne Gemeinden zu spalten. Ju einer kleinen Ge¬
meinde, wo die Interessen und die Bildungsstufe vollkommen gleich ist, wird es
freilich möglich sein — nicht nothwendig — daß ein gemeinsamer Wille des Volks
sich bildet; in diesem Fall ist aber die demokratische Verfassung etwas Gleich-



') Ich verweise u. a. auf den Brief an Fröbel und de» Neupolitischen Katechismus,
Grcnzvot-n 1858, Hast ?8 und 33.
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[0333] Reaction, oder, wie, sie sich positiv nennt, die Legitimität, die Sache dadurch bessern wollte, daß sie erklärte: es darf nie ein Recht aufgehoben werden ohne die Einwilligung sämmtlicher Betheiligten, nie ein Gesetz gegeben nnter dem Eindruck einer herrschenden Stimmung, nie ein neuer Factor in den Staatsme- chanismus eingeführt, ohne vorher erprobt zu sein — so ist das freilich con- sequent, aber sinnlos, weil es unmöglich ist. — Begnüge sie sich damit, ein ge¬ wisses Maß in all diesen Dingen zu fordern, so ist dagegen nichts einzuwenden, wir haben dann aber nicht mehr ein festes, geschlossenes Princip vor uns. — Sehr praktisch dagegen, sehr gefährlich und vcrabschenungsivürdig wird das Prin¬ cip der Legitimität, wenn es sich so formulirt: Gesetze, die uuter dem Eindruck einer herrschenden Stimmung gegeben siud, Gesetze nud Rechtsverhältnisse, bei deren Begründung bestehende Rechte verletzt sind; legislative Factoren endlich, die neu in'S Staatsleben eingeführt sind und altern Factoren den Umfang des Einflusses und der Gewalt beschränken: — alles dieses ist rechtlich unverbindlich^ und kann einseitig wieder aufgehoben werden, sobald die Gewalt dazu da ist. — Es wird dies Princip von uuserer Reaction praktisch jeden Augenblick ausgeübt, theoretisch hat mau es noch nicht gewagt, wenigstens in vollem Zusammenhang auszusprechen. Ich habe mich bis jetzt lediglich an das Thatsächliche gehalten. Ich gehe jetzt aus den materiellen Inhalt des revolutionären und des legitimistischen Princips ein. Was die charakteristische Lehre der Revolution, die Volkssou- veränetät betrifft, so können wir uns rühmen, sie in den Zeiten des revo¬ lutionären Schwindels so energisch und unverdrossen bekämpft zu haben, als es nur irgend von Seiten der Reaction geschehen konntet; wir haben daher das Recht, in dem gegenwärtigen Augenblick, wo es ganz andere Geg¬ ner gibt, diesen Kampf bei Seite zu lassen. Jener Wahlspruch, den die demokratischen Blätter an ihre Spitze zu stellen pflegen: „der Wille deö Ve>ils ist Gesetz", ist vor allen Dingen darum eitel und abgeschmackt, weil das Volk als solches keinen Willen hat, keinen haben kann; weil die Existenz des Volks als einer moralischen, willens- und zurechnungsfähigen Persönlichkeit eine leere Fiction ist. Der einzige Schriftsteller, der dieses Princip mit einer gewissen Tiefe durch¬ forscht bat, I. I. Rousseau, kommt daher in dem Bemühen, überhaupt nnr willensfähige Volks-Individualitäten 'herzustellen, zu dem seltsamen Ausweg, die Welt atomistisch in kleine souveräne Gemeinden zu spalten. Ju einer kleinen Ge¬ meinde, wo die Interessen und die Bildungsstufe vollkommen gleich ist, wird es freilich möglich sein — nicht nothwendig — daß ein gemeinsamer Wille des Volks sich bildet; in diesem Fall ist aber die demokratische Verfassung etwas Gleich- ') Ich verweise u. a. auf den Brief an Fröbel und de» Neupolitischen Katechismus, Grcnzvot-n 1858, Hast ?8 und 33.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/333>, abgerufen am 04.06.2024.