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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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grobe sinnliche Behagen?c., das ausschließlich dem russischen Volle eigen¬
thümlich ist?

In Bezug auf Kukoluik erlaube ich mir, den Verfasser des erwähnten Ar¬
tikels zu berichtigen, indem Niemand diesen Herrn für ein Wunderwesen hält.
Ich habe nachgewiesen, daß Rußland eine bedeutende literarische Vergangenheit
hinter sich hat, der die modernen Literatnrheroen bis auf wenige Ausnahmen nicht
werth siud die Schuhriemen aufzulösen. Kntvlnik gehört um vieles eher zu den
schreibseligen Büchermachern, die ihre Arbeiten in den Monatsschriften in zer¬
stückelter Gestalt erscheinen lassen, und an denen mau höchstens ihre Fruchtbarkeit,
aber durchaus uicht ihren literarischen Werth bewundert. Wenn es dem Ver¬
fasser als Kenner der russischen Literatur schou genehm war, aus der Masse eiuen
bekannten beliebten Namen hervorzuziehen, so hätte die Wahl ans Polewoi
fallen sollen. Polewoi'ö schriftstellerische Arbeiten sind keine Kunstwerke, es läßt
sich an ihnen der höhere ästhetische Maßstab uicht anlegen. Aber trotzdem gehört
er zu deu gefeiertesten russischem Schriftstellern und seiue Volksdramas macheu
immer volle Häuser. Polewoi gehört dem Volle an, er ist Autodidakt, ein La¬
dendiener von Hause aus und deswegen in seinen Neigungen und Sympathien
mit denen des Volkes verflochten. Polewoi begriff, daß die moderne russische
Literaturschule, zu der auch Kukoluik mit seinen Romanen und Dramen auf ita¬
lienischem und deutschem Boden gehörte, auf furchtbare Abwege gerathen und den
Boden unter den Füßen verliere, weil sie in fremden Literatnrprincipien, aber
nicht in dein Geschmacke und dem Verständnisse des Volkes ihren Halt suchte.
Polewoi, der Mann des Volkes, der die ihm vom Kaiser angebotene Adelö-
erhöhnng aufschlug, um sich dem russischem Volke uicht zu entfremden, begriff,
daß es die Aufgabe des russischen Dichters sein müsse, auf das Volk zu wirken,
seinen Geschmack zu läutern, aber vorzüglich durch Vorführung historischer, vater¬
ländischer Stoffe das Volk zu belehren und die ihm sonst fremden Ideen des
eigenen Bewußtseins wie seiner innern Kraft, tu der die Könige ihre Stütze
finden, in'S Gedächtniß zu prägen. Polewoi hatte liberale Ansichten, eben weil
er nicht dem Adel angehörte. Eine Zeitschrift, der Telegraph, den er eine
Zeit lang in Moskau herausgab und wo er sich im populären Style zu manchen
socialen und staatlichen Deductionen hinreißen ließ, wurde vom Kaiser selbst aus¬
drücklich verboten. Seine Dramen: I wan Sassnnin, Natascha Sibiratschka
(die Sibirerin) und noch viele andere, deren Titel, da ich ohne irgend welche
Quellen schreibe, mir jetzt nicht einfallen, gehören zu den beliebtesten Voltö-
dramen, die, wenn auch auf Effect berechnet, durch' ihre moralische Absicht die
ästhetischen Sünden verzeihen lassen. Polewoi, der anch zu früh starb, hat auch
eine russische Geschichte für Kiuder geschrieben!, aus der mau das tiefe
Gemüth und den moralischen Zwang herauslesen kann.

Auch über die Nvmauliteratur spricht der Verfasser ein absprechendes Urtheil


grobe sinnliche Behagen?c., das ausschließlich dem russischen Volle eigen¬
thümlich ist?

In Bezug auf Kukoluik erlaube ich mir, den Verfasser des erwähnten Ar¬
tikels zu berichtigen, indem Niemand diesen Herrn für ein Wunderwesen hält.
Ich habe nachgewiesen, daß Rußland eine bedeutende literarische Vergangenheit
hinter sich hat, der die modernen Literatnrheroen bis auf wenige Ausnahmen nicht
werth siud die Schuhriemen aufzulösen. Kntvlnik gehört um vieles eher zu den
schreibseligen Büchermachern, die ihre Arbeiten in den Monatsschriften in zer¬
stückelter Gestalt erscheinen lassen, und an denen mau höchstens ihre Fruchtbarkeit,
aber durchaus uicht ihren literarischen Werth bewundert. Wenn es dem Ver¬
fasser als Kenner der russischen Literatur schou genehm war, aus der Masse eiuen
bekannten beliebten Namen hervorzuziehen, so hätte die Wahl ans Polewoi
fallen sollen. Polewoi'ö schriftstellerische Arbeiten sind keine Kunstwerke, es läßt
sich an ihnen der höhere ästhetische Maßstab uicht anlegen. Aber trotzdem gehört
er zu deu gefeiertesten russischem Schriftstellern und seiue Volksdramas macheu
immer volle Häuser. Polewoi gehört dem Volle an, er ist Autodidakt, ein La¬
dendiener von Hause aus und deswegen in seinen Neigungen und Sympathien
mit denen des Volkes verflochten. Polewoi begriff, daß die moderne russische
Literaturschule, zu der auch Kukoluik mit seinen Romanen und Dramen auf ita¬
lienischem und deutschem Boden gehörte, auf furchtbare Abwege gerathen und den
Boden unter den Füßen verliere, weil sie in fremden Literatnrprincipien, aber
nicht in dein Geschmacke und dem Verständnisse des Volkes ihren Halt suchte.
Polewoi, der Mann des Volkes, der die ihm vom Kaiser angebotene Adelö-
erhöhnng aufschlug, um sich dem russischem Volke uicht zu entfremden, begriff,
daß es die Aufgabe des russischen Dichters sein müsse, auf das Volk zu wirken,
seinen Geschmack zu läutern, aber vorzüglich durch Vorführung historischer, vater¬
ländischer Stoffe das Volk zu belehren und die ihm sonst fremden Ideen des
eigenen Bewußtseins wie seiner innern Kraft, tu der die Könige ihre Stütze
finden, in'S Gedächtniß zu prägen. Polewoi hatte liberale Ansichten, eben weil
er nicht dem Adel angehörte. Eine Zeitschrift, der Telegraph, den er eine
Zeit lang in Moskau herausgab und wo er sich im populären Style zu manchen
socialen und staatlichen Deductionen hinreißen ließ, wurde vom Kaiser selbst aus¬
drücklich verboten. Seine Dramen: I wan Sassnnin, Natascha Sibiratschka
(die Sibirerin) und noch viele andere, deren Titel, da ich ohne irgend welche
Quellen schreibe, mir jetzt nicht einfallen, gehören zu den beliebtesten Voltö-
dramen, die, wenn auch auf Effect berechnet, durch' ihre moralische Absicht die
ästhetischen Sünden verzeihen lassen. Polewoi, der anch zu früh starb, hat auch
eine russische Geschichte für Kiuder geschrieben!, aus der mau das tiefe
Gemüth und den moralischen Zwang herauslesen kann.

Auch über die Nvmauliteratur spricht der Verfasser ein absprechendes Urtheil


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[0028] grobe sinnliche Behagen?c., das ausschließlich dem russischen Volle eigen¬ thümlich ist? In Bezug auf Kukoluik erlaube ich mir, den Verfasser des erwähnten Ar¬ tikels zu berichtigen, indem Niemand diesen Herrn für ein Wunderwesen hält. Ich habe nachgewiesen, daß Rußland eine bedeutende literarische Vergangenheit hinter sich hat, der die modernen Literatnrheroen bis auf wenige Ausnahmen nicht werth siud die Schuhriemen aufzulösen. Kntvlnik gehört um vieles eher zu den schreibseligen Büchermachern, die ihre Arbeiten in den Monatsschriften in zer¬ stückelter Gestalt erscheinen lassen, und an denen mau höchstens ihre Fruchtbarkeit, aber durchaus uicht ihren literarischen Werth bewundert. Wenn es dem Ver¬ fasser als Kenner der russischen Literatur schou genehm war, aus der Masse eiuen bekannten beliebten Namen hervorzuziehen, so hätte die Wahl ans Polewoi fallen sollen. Polewoi'ö schriftstellerische Arbeiten sind keine Kunstwerke, es läßt sich an ihnen der höhere ästhetische Maßstab uicht anlegen. Aber trotzdem gehört er zu deu gefeiertesten russischem Schriftstellern und seiue Volksdramas macheu immer volle Häuser. Polewoi gehört dem Volle an, er ist Autodidakt, ein La¬ dendiener von Hause aus und deswegen in seinen Neigungen und Sympathien mit denen des Volkes verflochten. Polewoi begriff, daß die moderne russische Literaturschule, zu der auch Kukoluik mit seinen Romanen und Dramen auf ita¬ lienischem und deutschem Boden gehörte, auf furchtbare Abwege gerathen und den Boden unter den Füßen verliere, weil sie in fremden Literatnrprincipien, aber nicht in dein Geschmacke und dem Verständnisse des Volkes ihren Halt suchte. Polewoi, der Mann des Volkes, der die ihm vom Kaiser angebotene Adelö- erhöhnng aufschlug, um sich dem russischem Volke uicht zu entfremden, begriff, daß es die Aufgabe des russischen Dichters sein müsse, auf das Volk zu wirken, seinen Geschmack zu läutern, aber vorzüglich durch Vorführung historischer, vater¬ ländischer Stoffe das Volk zu belehren und die ihm sonst fremden Ideen des eigenen Bewußtseins wie seiner innern Kraft, tu der die Könige ihre Stütze finden, in'S Gedächtniß zu prägen. Polewoi hatte liberale Ansichten, eben weil er nicht dem Adel angehörte. Eine Zeitschrift, der Telegraph, den er eine Zeit lang in Moskau herausgab und wo er sich im populären Style zu manchen socialen und staatlichen Deductionen hinreißen ließ, wurde vom Kaiser selbst aus¬ drücklich verboten. Seine Dramen: I wan Sassnnin, Natascha Sibiratschka (die Sibirerin) und noch viele andere, deren Titel, da ich ohne irgend welche Quellen schreibe, mir jetzt nicht einfallen, gehören zu den beliebtesten Voltö- dramen, die, wenn auch auf Effect berechnet, durch' ihre moralische Absicht die ästhetischen Sünden verzeihen lassen. Polewoi, der anch zu früh starb, hat auch eine russische Geschichte für Kiuder geschrieben!, aus der mau das tiefe Gemüth und den moralischen Zwang herauslesen kann. Auch über die Nvmauliteratur spricht der Verfasser ein absprechendes Urtheil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/28>, abgerufen am 16.06.2024.