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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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den fünften Theil seines Vermögens; selbst der arme Tagelöhner, der seine paar
ersparten Gulden in diesem Kupfer aufbewahrte, mußte sich von seinem Noth¬
pfennig achtzig Procent abziehen lassen!

Und diese Bankrott-Erinnerungsmedaillen courflren bis auf den heutigen Tag
noch massenhaft in den meisten Provinzen der Monarchie. Es läßt sich wohl er¬
klären, daß der Staat in der jetzigen Noth nicht daran denken kann, sie ans dein
Verkehr zu entfernen, obgleich sie nie ominöser geblinzelt und nie ein garstigeres
Wahrsagergesicht geschnitten haben als heutzutage, wo das Wort: Bankrott! täg¬
lich ans Millionen Lippen zittert. Aber daß eine Macht wie Oestreich se>t 1811
bis 1848 nicht daran dachte, diese groben Zeugen einstiger -- Ohnmacht einzu¬
ziehen, wie soll man das nennen? Naivität, Verachtung der öffentliche" Meinung
oder, wie ein Böswilliger sagen würde, Mangel an Anstand und Ehrgefühl?!


6. Der Erzherzog.

Lange hatte ich nicht so fleißig beten gehört, wie auf dem Wege nach Gastesn,
der letzten Station meiner diesjährigen Pilgerfahrt; und ich hoffe, daß mir im
Himmel die ehrerbietige Geduld, mit der ich zuhörte, als kein geringes Verdienst
angerechnet werden wird. Jedes Wirths- oder Bauernhaus bietet vor dem Früh-,
Mittags- und Abendbrot dasselbe eigenthümliche Schauspiel. Wenn die kolossale
Suppenschüssel oder der Milchnapf auf dem Tische steht, stellt sich die gesammte
Familie in einer Sturmkolonne, drei Mann hoch, auf. Vor der Front steht der
Hausvater, die abgezogene Mütze zwischen den Händen, das erste Glied bildet die
Mutter mit den Töchtern, das zweite bilden die Söhne des Hauses, das dritte
endlich die Knechte und Mägde. Kaum hat der Vater durch das erste Wort daS
Zeichen zum Angriff gegeben, so erhebt der gesammte Chor ein lautes Geschrei,
welches man wenigstens zehn Häuser weit hört. Es dauert in der Regel mehrere
Minuten, wird jedoch mit so geschäftsmäßig eintöniger und ausdrucksloser Ge¬
schwindigkeit ausgeführt, daß es schwer fällt, mehr als das Amen und ähnliche
hervorstechende Worte zu unterscheiden. Es mag freilich nicht leicht sein, drei Mal
drei hundert sechzig Mal jährlich dieselbe Andacht mit immer frischer Begeisterung
zu verrichten, da doch die Kirche auch ihren Antheil fordert, da die vielen Heili¬
gen und die häufigen Bittprocessionen mannigfache Gelegenheit geben, seine Seele
bis zur Erschöpfung auszuschütten. Trotz dieses katholischen Luxus im Beten, der
oft lebhaft an die geräuschvolle Andacht jüdischer Synagogen gemahnt, halte ich
die Frömmigkeit der guten Leute für aufrichtig und ernst gemeint, und ich zweifle
nicht, daß sie bei der gottseliger Verrichtung sich irgend etwas denken, wüßten
sie auch nicht immer anzugeben, was. Zuweilen, wenn Mann oder Frau al¬
lem ist, wird leise gebetet, nud dies macht jedenfalls einen minder störenden
Eindruck.


den fünften Theil seines Vermögens; selbst der arme Tagelöhner, der seine paar
ersparten Gulden in diesem Kupfer aufbewahrte, mußte sich von seinem Noth¬
pfennig achtzig Procent abziehen lassen!

Und diese Bankrott-Erinnerungsmedaillen courflren bis auf den heutigen Tag
noch massenhaft in den meisten Provinzen der Monarchie. Es läßt sich wohl er¬
klären, daß der Staat in der jetzigen Noth nicht daran denken kann, sie ans dein
Verkehr zu entfernen, obgleich sie nie ominöser geblinzelt und nie ein garstigeres
Wahrsagergesicht geschnitten haben als heutzutage, wo das Wort: Bankrott! täg¬
lich ans Millionen Lippen zittert. Aber daß eine Macht wie Oestreich se>t 1811
bis 1848 nicht daran dachte, diese groben Zeugen einstiger — Ohnmacht einzu¬
ziehen, wie soll man das nennen? Naivität, Verachtung der öffentliche» Meinung
oder, wie ein Böswilliger sagen würde, Mangel an Anstand und Ehrgefühl?!


6. Der Erzherzog.

Lange hatte ich nicht so fleißig beten gehört, wie auf dem Wege nach Gastesn,
der letzten Station meiner diesjährigen Pilgerfahrt; und ich hoffe, daß mir im
Himmel die ehrerbietige Geduld, mit der ich zuhörte, als kein geringes Verdienst
angerechnet werden wird. Jedes Wirths- oder Bauernhaus bietet vor dem Früh-,
Mittags- und Abendbrot dasselbe eigenthümliche Schauspiel. Wenn die kolossale
Suppenschüssel oder der Milchnapf auf dem Tische steht, stellt sich die gesammte
Familie in einer Sturmkolonne, drei Mann hoch, auf. Vor der Front steht der
Hausvater, die abgezogene Mütze zwischen den Händen, das erste Glied bildet die
Mutter mit den Töchtern, das zweite bilden die Söhne des Hauses, das dritte
endlich die Knechte und Mägde. Kaum hat der Vater durch das erste Wort daS
Zeichen zum Angriff gegeben, so erhebt der gesammte Chor ein lautes Geschrei,
welches man wenigstens zehn Häuser weit hört. Es dauert in der Regel mehrere
Minuten, wird jedoch mit so geschäftsmäßig eintöniger und ausdrucksloser Ge¬
schwindigkeit ausgeführt, daß es schwer fällt, mehr als das Amen und ähnliche
hervorstechende Worte zu unterscheiden. Es mag freilich nicht leicht sein, drei Mal
drei hundert sechzig Mal jährlich dieselbe Andacht mit immer frischer Begeisterung
zu verrichten, da doch die Kirche auch ihren Antheil fordert, da die vielen Heili¬
gen und die häufigen Bittprocessionen mannigfache Gelegenheit geben, seine Seele
bis zur Erschöpfung auszuschütten. Trotz dieses katholischen Luxus im Beten, der
oft lebhaft an die geräuschvolle Andacht jüdischer Synagogen gemahnt, halte ich
die Frömmigkeit der guten Leute für aufrichtig und ernst gemeint, und ich zweifle
nicht, daß sie bei der gottseliger Verrichtung sich irgend etwas denken, wüßten
sie auch nicht immer anzugeben, was. Zuweilen, wenn Mann oder Frau al¬
lem ist, wird leise gebetet, nud dies macht jedenfalls einen minder störenden
Eindruck.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/114>, abgerufen am 15.06.2024.