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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Mal diese Gewässer, nie hatte ich eine Fahrt ohne Sturm, nie sah ich vom
Ufer das Meer anders als in halcyonischer Stille. Es mag Zufall gewesen sein,
ich will die Nordsee nicht verleumden, aber gewiß ist, daß sie bei allen Seefah¬
rer" im schlimmsten Ruf steht. Sie gilt für launischer als irgend eine See bei¬
der Hemisphären. Der "g-el-man oceim" (die Nordsee) und der "alumna-I" (der
Kanal) verschlingen mehr Drcidccker sammt Thecrjacken, Waarenballen und Passa¬
gieren in einem Jahr als das mittelländische Meer , in fünf Jahren. "S'ist eine
böse, eine backende See (-t ein^nnA so"), "Sir," sagte ein englischer Ma¬
trose an Bord der Venezuela vor Calais zu mir, und zeigte auf die Wellen hin¬
aus, die in wilder Balgerei sich tummelten; "müssen immer raufen, sind Vollblut,
sind unsere Kettenhunde, die hier im Salzwassergrabeu die Küste Altenglands be¬
wachen . . Unsereiner," fuhr er fort, eine Cigarre, die ich ihm bot, wie ein
Hamster in die linke Backentasche schiebend und zerkauend, "lacht dazu, aber euch
Landskindern dreht's wohl deu Magen um, he?" Nun, ich hörte, zum Ruhm der
Nordsee, alte ausgepichte Seevögel erzählen, daß sie mehrmals nach Indien, Ca¬
nada und Brasilien geschwommen, ohne im frischesten Wetter den Appetit zu ver¬
lieren, darauf kamen sie zum ersten Mal in den Canal, und wie der Wind mit
deu Wellen Gallop zu tanzen anfing, wo waren die Veteranen? Unten in der
Kajüte, auf ihren Knieen lagen sie vor Neptun's Opferteller, dem Waschbecken,
und verrichteten ihre abschenliche Andacht so zerknirscht wie die gemeinste Landratte.

Doch kein Wort mehr von ihren Tücken, nnr ihrer Reize will ich gedenken,
und das kann ich nicht besser thun als indem ich im Geiste mich wieder auf den
Uferabhang von Brighton hinlege, um gleich andern Badegästen Sonne, Seeluft
und llolcv für nimt" zu genießen. Sachte, mit zierlichem Damenschritt steigt die
amphitheatralisch gebaute Stadt Brighton vom Kamme der South-Downs bis ans
Gestad herunter; die oberste Terrasse bedeckt sie mit kleinen Sommerwohnungen,
zwischen die sich bescheidene Gärten schmiegen, tiefer unten entfaltet sie schon den
Fächer großstädtischer Pracht und Schönheit, bis sie endlich im Angesicht des
Meeres sich zu einem weiten Halbmond pittoresker Paläste ausdehnt, dessen blin¬
kende Hörner die ganze grüne See umarmen wollen. Vom Meere oder vom Ende
des weit in die Fluth hinausgehenden Landnngsdammcs gesehen, macht die Fa^abe
Brightons einen überraschenden Eindruck. Die flachen Dächer findet man überall
in England, aber die bunte Masse von Vorsprüngen, luftigen Söllern und soliden
Erkerthürmcn, die oft aus der Mitte eines Palastes sich weit heranswölbcn, und
in die Vertheilung von Lichtern und Schatte" malerische Abwechslung bringen,
gibt dem Ganzen den Anstrich einer halb antiken, halb mittelalterlichen Veste;
man würde glauben zu träumen und im Traume ein Panorama von Troja oder
Tyrus zu sehen, wenn Einem die rothe Abendsonne nicht aus einigen Dutzend
moderner Spiegelscheiben entgegenblitzte, hinter denen bald ein Juwelier seinen
Gold- und Brillantcnschmuck auslegt, ein Londoner Vogelhändler seine Kakadus


Mal diese Gewässer, nie hatte ich eine Fahrt ohne Sturm, nie sah ich vom
Ufer das Meer anders als in halcyonischer Stille. Es mag Zufall gewesen sein,
ich will die Nordsee nicht verleumden, aber gewiß ist, daß sie bei allen Seefah¬
rer» im schlimmsten Ruf steht. Sie gilt für launischer als irgend eine See bei¬
der Hemisphären. Der „g-el-man oceim" (die Nordsee) und der „alumna-I" (der
Kanal) verschlingen mehr Drcidccker sammt Thecrjacken, Waarenballen und Passa¬
gieren in einem Jahr als das mittelländische Meer , in fünf Jahren. „S'ist eine
böse, eine backende See (-t ein^nnA so»), „Sir," sagte ein englischer Ma¬
trose an Bord der Venezuela vor Calais zu mir, und zeigte auf die Wellen hin¬
aus, die in wilder Balgerei sich tummelten; „müssen immer raufen, sind Vollblut,
sind unsere Kettenhunde, die hier im Salzwassergrabeu die Küste Altenglands be¬
wachen . . Unsereiner," fuhr er fort, eine Cigarre, die ich ihm bot, wie ein
Hamster in die linke Backentasche schiebend und zerkauend, „lacht dazu, aber euch
Landskindern dreht's wohl deu Magen um, he?" Nun, ich hörte, zum Ruhm der
Nordsee, alte ausgepichte Seevögel erzählen, daß sie mehrmals nach Indien, Ca¬
nada und Brasilien geschwommen, ohne im frischesten Wetter den Appetit zu ver¬
lieren, darauf kamen sie zum ersten Mal in den Canal, und wie der Wind mit
deu Wellen Gallop zu tanzen anfing, wo waren die Veteranen? Unten in der
Kajüte, auf ihren Knieen lagen sie vor Neptun's Opferteller, dem Waschbecken,
und verrichteten ihre abschenliche Andacht so zerknirscht wie die gemeinste Landratte.

Doch kein Wort mehr von ihren Tücken, nnr ihrer Reize will ich gedenken,
und das kann ich nicht besser thun als indem ich im Geiste mich wieder auf den
Uferabhang von Brighton hinlege, um gleich andern Badegästen Sonne, Seeluft
und llolcv für nimt« zu genießen. Sachte, mit zierlichem Damenschritt steigt die
amphitheatralisch gebaute Stadt Brighton vom Kamme der South-Downs bis ans
Gestad herunter; die oberste Terrasse bedeckt sie mit kleinen Sommerwohnungen,
zwischen die sich bescheidene Gärten schmiegen, tiefer unten entfaltet sie schon den
Fächer großstädtischer Pracht und Schönheit, bis sie endlich im Angesicht des
Meeres sich zu einem weiten Halbmond pittoresker Paläste ausdehnt, dessen blin¬
kende Hörner die ganze grüne See umarmen wollen. Vom Meere oder vom Ende
des weit in die Fluth hinausgehenden Landnngsdammcs gesehen, macht die Fa^abe
Brightons einen überraschenden Eindruck. Die flachen Dächer findet man überall
in England, aber die bunte Masse von Vorsprüngen, luftigen Söllern und soliden
Erkerthürmcn, die oft aus der Mitte eines Palastes sich weit heranswölbcn, und
in die Vertheilung von Lichtern und Schatte» malerische Abwechslung bringen,
gibt dem Ganzen den Anstrich einer halb antiken, halb mittelalterlichen Veste;
man würde glauben zu träumen und im Traume ein Panorama von Troja oder
Tyrus zu sehen, wenn Einem die rothe Abendsonne nicht aus einigen Dutzend
moderner Spiegelscheiben entgegenblitzte, hinter denen bald ein Juwelier seinen
Gold- und Brillantcnschmuck auslegt, ein Londoner Vogelhändler seine Kakadus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/504>, abgerufen am 24.05.2024.