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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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in den Belehrungen, die John Watt dem communistischen Prediger John Bull
ertheilt, ist zu sehr das 19. Jahrhundert anticipirt.


Meint Ihr, mit einem einz'gar blut'gar Strich
Hin über die Geschichte eines Volkes
Die hundertjährigen Gewohnheiten
Ihm aus dem Sinn zu löschen? n. s. w.

So empfand das Volk im 1i. Jahrhundert noch nicht. Wenn es sich mäßigte,
so geschah es ans individuellen Gründen, nicht aus philosophischen Principien.
-- Daher ist zuweilen in deu minder bedeutenden Charakteren, z. B. in der
Prinzessin vou Wales, mehr Fleisch und Blut, als in diesem gar zu gelassenen
Demagogen. Vou echter Poesie ist die weitere Entwickelung im Charakter der
Tochter Watt's, Anna, die als Opfer des Conflicts zwischen Adel und Volk
fallen muß. Im Anfang ist sie gar zu zart und unbestimmt, die Scene aber,
in der sie ihrem Verführer die bisherige Liebe aufkündigt, ist in der Empfindung
wie im Ausdruck durchaus poetisch. Dagegen ist ihr Ende zu wenig vorbereitet.
Es ist das ein allgemeiner Fehler unsrer jünger" Dichter, daß sie gern über¬
raschen. Nichts stört im Drama so sehr, Nichts widerspricht so entschieden der
eigentlichen Stimmung, in die das Publicum versetzt sein will, als eine unvor¬
bereitete Ueberraschung. Wir müssen das Zerhauen des Knotens lange vorher
nicht nur ahnen, sondern mit Zuversicht voraussehen, wenn der für den Eintritt
der Katastrophe nothwendige Schrecken in unserm Gemüth die gehörige Stätte
finden soll. -- Von den beiden frühern Stücken ist Kaiser Heinrich IV, in
der Ausführung zwar schwächer, denn es sind zu viel Personen und Ereignisse
darin, von deren innerer Nothwendigkeit wir uns nicht überzeugen, und es wird
mit der Geschichte gar zu novellistisch umgesprungen, allein die Anlage ist gut.
Daß die eigentliche Hauptperson des Stücks, der nachmalige Heinrich V., zu dem
entsetzlichen Frevel gegen seinen Vater gerade dnrch eine Seite seines Charakters.
verführt werden muß, die sonst anerkennenswert!) ist, durch die Stärke und Härte
seines Willens, die nothwendiger Weise gegen die weichen und unbestimmten
Personen seiner Umgebung Geringschätzung empfindet, und daß dann die Umkehr
bei einer energischen Natur um so schneller und gewaltiger eintritt, ist durchaus
dramatisch. -- Das zweite Stück: Soph ouiöbe, ist ein zierliches und sehr
hübsch ausgeführtes Genrebildchen aus dem Kunst- und Liebesleben in dem Zeit¬
alter Philipp's II, In Beziehung auf die Sprache mochten wir es den beiden
andern vorziehen, denn sie paßt zum Gegenstand am Besten.


IV.
Kain. Dramatisches Gedicht von Franz Hcdrich. Leipzig, Herbig.

Hier haben wir die rein lyrische Reflexion ohne eine Spur von dramatischer
Gestaltung, obgleich mitunter ein nicht gemeines Talent durchklingt, z. B. in einer,


in den Belehrungen, die John Watt dem communistischen Prediger John Bull
ertheilt, ist zu sehr das 19. Jahrhundert anticipirt.


Meint Ihr, mit einem einz'gar blut'gar Strich
Hin über die Geschichte eines Volkes
Die hundertjährigen Gewohnheiten
Ihm aus dem Sinn zu löschen? n. s. w.

So empfand das Volk im 1i. Jahrhundert noch nicht. Wenn es sich mäßigte,
so geschah es ans individuellen Gründen, nicht aus philosophischen Principien.
— Daher ist zuweilen in deu minder bedeutenden Charakteren, z. B. in der
Prinzessin vou Wales, mehr Fleisch und Blut, als in diesem gar zu gelassenen
Demagogen. Vou echter Poesie ist die weitere Entwickelung im Charakter der
Tochter Watt's, Anna, die als Opfer des Conflicts zwischen Adel und Volk
fallen muß. Im Anfang ist sie gar zu zart und unbestimmt, die Scene aber,
in der sie ihrem Verführer die bisherige Liebe aufkündigt, ist in der Empfindung
wie im Ausdruck durchaus poetisch. Dagegen ist ihr Ende zu wenig vorbereitet.
Es ist das ein allgemeiner Fehler unsrer jünger» Dichter, daß sie gern über¬
raschen. Nichts stört im Drama so sehr, Nichts widerspricht so entschieden der
eigentlichen Stimmung, in die das Publicum versetzt sein will, als eine unvor¬
bereitete Ueberraschung. Wir müssen das Zerhauen des Knotens lange vorher
nicht nur ahnen, sondern mit Zuversicht voraussehen, wenn der für den Eintritt
der Katastrophe nothwendige Schrecken in unserm Gemüth die gehörige Stätte
finden soll. — Von den beiden frühern Stücken ist Kaiser Heinrich IV, in
der Ausführung zwar schwächer, denn es sind zu viel Personen und Ereignisse
darin, von deren innerer Nothwendigkeit wir uns nicht überzeugen, und es wird
mit der Geschichte gar zu novellistisch umgesprungen, allein die Anlage ist gut.
Daß die eigentliche Hauptperson des Stücks, der nachmalige Heinrich V., zu dem
entsetzlichen Frevel gegen seinen Vater gerade dnrch eine Seite seines Charakters.
verführt werden muß, die sonst anerkennenswert!) ist, durch die Stärke und Härte
seines Willens, die nothwendiger Weise gegen die weichen und unbestimmten
Personen seiner Umgebung Geringschätzung empfindet, und daß dann die Umkehr
bei einer energischen Natur um so schneller und gewaltiger eintritt, ist durchaus
dramatisch. — Das zweite Stück: Soph ouiöbe, ist ein zierliches und sehr
hübsch ausgeführtes Genrebildchen aus dem Kunst- und Liebesleben in dem Zeit¬
alter Philipp's II, In Beziehung auf die Sprache mochten wir es den beiden
andern vorziehen, denn sie paßt zum Gegenstand am Besten.


IV.
Kain. Dramatisches Gedicht von Franz Hcdrich. Leipzig, Herbig.

Hier haben wir die rein lyrische Reflexion ohne eine Spur von dramatischer
Gestaltung, obgleich mitunter ein nicht gemeines Talent durchklingt, z. B. in einer,


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[0140] in den Belehrungen, die John Watt dem communistischen Prediger John Bull ertheilt, ist zu sehr das 19. Jahrhundert anticipirt. Meint Ihr, mit einem einz'gar blut'gar Strich Hin über die Geschichte eines Volkes Die hundertjährigen Gewohnheiten Ihm aus dem Sinn zu löschen? n. s. w. So empfand das Volk im 1i. Jahrhundert noch nicht. Wenn es sich mäßigte, so geschah es ans individuellen Gründen, nicht aus philosophischen Principien. — Daher ist zuweilen in deu minder bedeutenden Charakteren, z. B. in der Prinzessin vou Wales, mehr Fleisch und Blut, als in diesem gar zu gelassenen Demagogen. Vou echter Poesie ist die weitere Entwickelung im Charakter der Tochter Watt's, Anna, die als Opfer des Conflicts zwischen Adel und Volk fallen muß. Im Anfang ist sie gar zu zart und unbestimmt, die Scene aber, in der sie ihrem Verführer die bisherige Liebe aufkündigt, ist in der Empfindung wie im Ausdruck durchaus poetisch. Dagegen ist ihr Ende zu wenig vorbereitet. Es ist das ein allgemeiner Fehler unsrer jünger» Dichter, daß sie gern über¬ raschen. Nichts stört im Drama so sehr, Nichts widerspricht so entschieden der eigentlichen Stimmung, in die das Publicum versetzt sein will, als eine unvor¬ bereitete Ueberraschung. Wir müssen das Zerhauen des Knotens lange vorher nicht nur ahnen, sondern mit Zuversicht voraussehen, wenn der für den Eintritt der Katastrophe nothwendige Schrecken in unserm Gemüth die gehörige Stätte finden soll. — Von den beiden frühern Stücken ist Kaiser Heinrich IV, in der Ausführung zwar schwächer, denn es sind zu viel Personen und Ereignisse darin, von deren innerer Nothwendigkeit wir uns nicht überzeugen, und es wird mit der Geschichte gar zu novellistisch umgesprungen, allein die Anlage ist gut. Daß die eigentliche Hauptperson des Stücks, der nachmalige Heinrich V., zu dem entsetzlichen Frevel gegen seinen Vater gerade dnrch eine Seite seines Charakters. verführt werden muß, die sonst anerkennenswert!) ist, durch die Stärke und Härte seines Willens, die nothwendiger Weise gegen die weichen und unbestimmten Personen seiner Umgebung Geringschätzung empfindet, und daß dann die Umkehr bei einer energischen Natur um so schneller und gewaltiger eintritt, ist durchaus dramatisch. — Das zweite Stück: Soph ouiöbe, ist ein zierliches und sehr hübsch ausgeführtes Genrebildchen aus dem Kunst- und Liebesleben in dem Zeit¬ alter Philipp's II, In Beziehung auf die Sprache mochten wir es den beiden andern vorziehen, denn sie paßt zum Gegenstand am Besten. IV. Kain. Dramatisches Gedicht von Franz Hcdrich. Leipzig, Herbig. Hier haben wir die rein lyrische Reflexion ohne eine Spur von dramatischer Gestaltung, obgleich mitunter ein nicht gemeines Talent durchklingt, z. B. in einer,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/140>, abgerufen am 15.06.2024.