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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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maß, Ausdrucksweise u. tgi. gerechtfertigt. Wenn auch der Form eine etwas
zu große Berücksichtigung zu Theil wurde, so war an sich die Untersuchung des
Handwerkzcnges, welches die neue Dichtung benutzen wollte, wohl angebracht.
Als den eigentlichen Gründer der neuen Schule stellte Se. Beroe den unglück¬
lichen Andre Chenier dar, welcher der ersten Revolution zum Opfer hatte fallen
müssen. Dieser Dichter, der wenigstens in einzelnen seiner Lieder eine für die
Franzosen sehr seltene Innigkeit und Wärme an den Tag gelegt hatte, erregte
damals wieder allgemeine Aufmerksamkeit. Im Jahre 1819 hatte man eine Aus¬
wahl seiner lyrischen Gedichte herausgegeben, und Alfred de Vigny machte ihn
in seinem Stell" zu dem Helden einer jener Novellen, in denen der Kampf des
Genius gegen die Gesellschaft dargestellt wurde.

Denselben polemischen oder apologetischen Charakter tragen die literarischen
Portraits, welche Se. Beroe in den Jahren 1829 und 1830 veröffentlichte. Sie
waren in Folge ihrer Tendenz einseitig, aber voll Geist und Scharfsinn, und zeig¬
ten eine Frische und Wärme, die man in den spätern Portraits zum Theil ver¬
mißt. Diese letztern, welche großentheils in der lievuc ä.;5 deux nennt.^ er¬
schienen, haben einen ganz entgegengesetzten Charakter. Der Kritiker hat das
ernsthafte Bestreben, so objectiv als möglich zu sein; er macht die gewissenhafte¬
sten Studien, und sammelt das anekdotische Detail im allerweitesten Maßstabe,
"ber er geht weniger auf den Inhalt der Schriften und aus ihren wirklichen
Werth ein, als auf die Wirkuug, die sie im Publicum machten, und auf die In¬
dividualität des Dichters. Mit dieser Methode ist nnr zu leicht der Uebelstand
verbunden, daß die Forschungen sich in Aeußerlichkeiten verlieren und die Haupt¬
sache übersehen. Wir haben geistreiche Referate, aber nicht jenes entschiedene,
fruchtbare Urtheil, wodurch die Kritik doch allem auf ihre Zeit iufluirt. Eine
bilderreiche, zum Theil überladene und schwülstige Sprache, die allen Formen des
Empfindens und des Denkens gerecht zu werden strebt, drängt den Eindruck der
Kritik noch mehr zurück. Trotz dieser Fehler kann man aus diesen Bildern sehr viel
lernen, und vielleicht der Fremde mehr, als der Franzose selbst, denn die Por¬
traits ergänzen die Hilfsmittel, die uns selber nicht zu Gebote stehen, während
wir die Schriften, über die sie oberflächlich hingehen, aus eigener Anschau¬
ung beurtheilen können. Außerdem hat Se. Beroe das große Talent, geschickt
"ut künstlerisch zu gruppiren, wenn auch das Material noch so massenhaft sein mag.

Dieselben Vorzüge und Fehler finden sich in seinein größern Werk, der
Geschichte von Port loyal. Das äußerliche Material ist mit der minutiösesten
Gewissenhaftigkeit zusammengetragen, aber sein Streben nach unbedingter Objec¬
tivst führt zu einer Art von Unparteilichkeit, die zuletzt in Inhalts- und Ur¬
teilslosigkeit ausartet. Der geistige Inhalt jeuer merkwürdigen theologischen
Richtung geht darüber ganz verloren, und wir bewegen uns in einer Zusammen-
fügung literarhistorischer Kuriositäten.


maß, Ausdrucksweise u. tgi. gerechtfertigt. Wenn auch der Form eine etwas
zu große Berücksichtigung zu Theil wurde, so war an sich die Untersuchung des
Handwerkzcnges, welches die neue Dichtung benutzen wollte, wohl angebracht.
Als den eigentlichen Gründer der neuen Schule stellte Se. Beroe den unglück¬
lichen Andre Chenier dar, welcher der ersten Revolution zum Opfer hatte fallen
müssen. Dieser Dichter, der wenigstens in einzelnen seiner Lieder eine für die
Franzosen sehr seltene Innigkeit und Wärme an den Tag gelegt hatte, erregte
damals wieder allgemeine Aufmerksamkeit. Im Jahre 1819 hatte man eine Aus¬
wahl seiner lyrischen Gedichte herausgegeben, und Alfred de Vigny machte ihn
in seinem Stell» zu dem Helden einer jener Novellen, in denen der Kampf des
Genius gegen die Gesellschaft dargestellt wurde.

Denselben polemischen oder apologetischen Charakter tragen die literarischen
Portraits, welche Se. Beroe in den Jahren 1829 und 1830 veröffentlichte. Sie
waren in Folge ihrer Tendenz einseitig, aber voll Geist und Scharfsinn, und zeig¬
ten eine Frische und Wärme, die man in den spätern Portraits zum Theil ver¬
mißt. Diese letztern, welche großentheils in der lievuc ä.;5 deux nennt.^ er¬
schienen, haben einen ganz entgegengesetzten Charakter. Der Kritiker hat das
ernsthafte Bestreben, so objectiv als möglich zu sein; er macht die gewissenhafte¬
sten Studien, und sammelt das anekdotische Detail im allerweitesten Maßstabe,
"ber er geht weniger auf den Inhalt der Schriften und aus ihren wirklichen
Werth ein, als auf die Wirkuug, die sie im Publicum machten, und auf die In¬
dividualität des Dichters. Mit dieser Methode ist nnr zu leicht der Uebelstand
verbunden, daß die Forschungen sich in Aeußerlichkeiten verlieren und die Haupt¬
sache übersehen. Wir haben geistreiche Referate, aber nicht jenes entschiedene,
fruchtbare Urtheil, wodurch die Kritik doch allem auf ihre Zeit iufluirt. Eine
bilderreiche, zum Theil überladene und schwülstige Sprache, die allen Formen des
Empfindens und des Denkens gerecht zu werden strebt, drängt den Eindruck der
Kritik noch mehr zurück. Trotz dieser Fehler kann man aus diesen Bildern sehr viel
lernen, und vielleicht der Fremde mehr, als der Franzose selbst, denn die Por¬
traits ergänzen die Hilfsmittel, die uns selber nicht zu Gebote stehen, während
wir die Schriften, über die sie oberflächlich hingehen, aus eigener Anschau¬
ung beurtheilen können. Außerdem hat Se. Beroe das große Talent, geschickt
»ut künstlerisch zu gruppiren, wenn auch das Material noch so massenhaft sein mag.

Dieselben Vorzüge und Fehler finden sich in seinein größern Werk, der
Geschichte von Port loyal. Das äußerliche Material ist mit der minutiösesten
Gewissenhaftigkeit zusammengetragen, aber sein Streben nach unbedingter Objec¬
tivst führt zu einer Art von Unparteilichkeit, die zuletzt in Inhalts- und Ur¬
teilslosigkeit ausartet. Der geistige Inhalt jeuer merkwürdigen theologischen
Richtung geht darüber ganz verloren, und wir bewegen uns in einer Zusammen-
fügung literarhistorischer Kuriositäten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/225>, abgerufen am 01.05.2024.