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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Se. Beuve hat auch als Dichter Anerkennung gefunden. Schon in den
Poesien von Joseph Delorme fand sich neben den Nachahmungen von Ronsard
einerseits, von Colcridge, Wordswvrth und den übrigen Dichtern der Seeschule
andererseits mehreres Eigene. Um das ewige Declamiren der altfranzösische"
Lyrik zu vermeiden, gab Se. Beroe seinen Empfindungen einen raffinirt modernen
Charakter; er stellte sich als unfähig jener dauerhaften Liebe dar, welche zu be¬
zweifeln die frühere Convenienz nicht verstattet hatte. Das geht so weit, daß er
selbst in den Träumen von künftigem Liebesglück bereits die künftigen Täuschungen
vvransempsindet. Die Trunkenheit der sinnlichen Leidenschaft ist übrigens mit
poetischem Geschick dargestellt. -- Die besten seiner Gedichte sind in seinen Oon-
8<>IiMcm", die gleichzeitig mit Lamartine's Harmonien erschienen (1830). Die
Form ist immer klar und von künstlerischer Einheit und Symmetrie. Er bestrebt
sich wenigstens, überall ideal zu sein, wenn sich auch der Inhalt zuweilen ins
Mystische und Trübe verliert. Der Hauptgedanke, der sich in diesen Gedichten
ausspricht, ist die Wiederherstellung einer neuen heiligen Kunst auf Grundlage
der Religion; ein Gedanke, der dnrch Chateaubriand und Lamartine zu einer Art
Modesache gemacht war. -- Schwächer sind die Augustgedanken, obgleich
keineswegs ohne poetischen Werth; aber nicht allein der Inhalt ist mystisch und
unklar, nicht allein die Entwickelung der Gedanken springend und doch schleppend,
sondern auch die Sprache bald räthselhaft, bald trivial. Das größte nnter diesen
Gedichten ist Uvnsivm- >Ivmi. Der Held desselben ist der im Findelhaus erzogene
Sohn Rousseau's, der es als die Aufgabe seines Lebens betrachtet, die Frevel,
die sein großer Vater an der Menschheit begangen, dnrch sein Leben und seine
Lehre zu sühnen. ES erinnert in mancher Beziehung an Lamartine's Jocelyn. --
Alle diese Gedichte sind im Gegensatz zu der hergebrachten Odenform an irgend
eine individuelle Begebenheit geknüpft, in der Regel eine Begebenheit sehr gleich¬
gültiger Natur, einen Spaziergang, einen Ball, einen Besuch, eine Unterredung,
die Lecture eines neuen Romans u. s. w. Dadurch wird die Individualität der
Sprache allerdings gehoben, aber es verleitet auch zu Trivialitäten und manierirten
Wiederholungen. Gelegenheitsgedichte, namentlich in der Epistel-Form, streifen
stets in die Prosa über. Die ewigen Komplimente, die sich diese Poeten ein¬
ander machen, V. Hugo, Lamartine, A. v. Musset n. f. w., werden zuletzt uner¬
träglich, denn sie sind eben so inhaltlos als die Complimente der Salons, wenn
sie auch mit mehr Salbung vorgetragen werden. Ueberhaupt ist das beständige
biblische Pathos, die ewigen Anspielungen ans das Thal Josaphat und die Jung¬
frau Maria u. s. w., nicht weniger Manier, als die frühern Ossianischen Phrajen
und die noch frühern classischen Phyllis, Amaryllis u. s. w.

Der Roman, der zwischen diese beiden Gedichtsammlungen fällt: v<"in>,>v,
hat eine dogmatische Tendenz. Er bestrebt sich, nachzuweisen, daß die Wollust
alle unsre Kräfte entnervt, und uns unfähig macht, zu empfinden, zu begreifen


Se. Beuve hat auch als Dichter Anerkennung gefunden. Schon in den
Poesien von Joseph Delorme fand sich neben den Nachahmungen von Ronsard
einerseits, von Colcridge, Wordswvrth und den übrigen Dichtern der Seeschule
andererseits mehreres Eigene. Um das ewige Declamiren der altfranzösische»
Lyrik zu vermeiden, gab Se. Beroe seinen Empfindungen einen raffinirt modernen
Charakter; er stellte sich als unfähig jener dauerhaften Liebe dar, welche zu be¬
zweifeln die frühere Convenienz nicht verstattet hatte. Das geht so weit, daß er
selbst in den Träumen von künftigem Liebesglück bereits die künftigen Täuschungen
vvransempsindet. Die Trunkenheit der sinnlichen Leidenschaft ist übrigens mit
poetischem Geschick dargestellt. — Die besten seiner Gedichte sind in seinen Oon-
8<>IiMcm«, die gleichzeitig mit Lamartine's Harmonien erschienen (1830). Die
Form ist immer klar und von künstlerischer Einheit und Symmetrie. Er bestrebt
sich wenigstens, überall ideal zu sein, wenn sich auch der Inhalt zuweilen ins
Mystische und Trübe verliert. Der Hauptgedanke, der sich in diesen Gedichten
ausspricht, ist die Wiederherstellung einer neuen heiligen Kunst auf Grundlage
der Religion; ein Gedanke, der dnrch Chateaubriand und Lamartine zu einer Art
Modesache gemacht war. — Schwächer sind die Augustgedanken, obgleich
keineswegs ohne poetischen Werth; aber nicht allein der Inhalt ist mystisch und
unklar, nicht allein die Entwickelung der Gedanken springend und doch schleppend,
sondern auch die Sprache bald räthselhaft, bald trivial. Das größte nnter diesen
Gedichten ist Uvnsivm- >Ivmi. Der Held desselben ist der im Findelhaus erzogene
Sohn Rousseau's, der es als die Aufgabe seines Lebens betrachtet, die Frevel,
die sein großer Vater an der Menschheit begangen, dnrch sein Leben und seine
Lehre zu sühnen. ES erinnert in mancher Beziehung an Lamartine's Jocelyn. --
Alle diese Gedichte sind im Gegensatz zu der hergebrachten Odenform an irgend
eine individuelle Begebenheit geknüpft, in der Regel eine Begebenheit sehr gleich¬
gültiger Natur, einen Spaziergang, einen Ball, einen Besuch, eine Unterredung,
die Lecture eines neuen Romans u. s. w. Dadurch wird die Individualität der
Sprache allerdings gehoben, aber es verleitet auch zu Trivialitäten und manierirten
Wiederholungen. Gelegenheitsgedichte, namentlich in der Epistel-Form, streifen
stets in die Prosa über. Die ewigen Komplimente, die sich diese Poeten ein¬
ander machen, V. Hugo, Lamartine, A. v. Musset n. f. w., werden zuletzt uner¬
träglich, denn sie sind eben so inhaltlos als die Complimente der Salons, wenn
sie auch mit mehr Salbung vorgetragen werden. Ueberhaupt ist das beständige
biblische Pathos, die ewigen Anspielungen ans das Thal Josaphat und die Jung¬
frau Maria u. s. w., nicht weniger Manier, als die frühern Ossianischen Phrajen
und die noch frühern classischen Phyllis, Amaryllis u. s. w.

Der Roman, der zwischen diese beiden Gedichtsammlungen fällt: v<»in>,>v,
hat eine dogmatische Tendenz. Er bestrebt sich, nachzuweisen, daß die Wollust
alle unsre Kräfte entnervt, und uns unfähig macht, zu empfinden, zu begreifen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/226>, abgerufen am 29.04.2024.