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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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bigcn und Gerechten. Noch einmal zeigt uns der Künstler die principiellen
Mächte des Heidenthums, die von der neuen Gottesidee überwunden oder ver¬
wandelt werden. Zuerst Ate, die unheilvolle Verblendung, die verderbliche Un¬
besonnenheit, die Schuld. Ihre Augen sind verbunden. Aber sie schreit wild
nud heftig. Ihre Linke schwingt einen Dolch, die Rechte eine Fackel, zu welcher
Käfer, Libellen und Schmetterlinge in verblendender Sinnenlust eilen, den Tod zu
finden. Eine hat sich bereits zum Sterben verseugt. Ueber der Ate läuft der
Fuchs, die schlaue Verführung; von dem Nagel im Kopfe weiß man nicht recht,
soll er ihre Bornirtheit, soll er ihren Untergang bezeichnen; vielleicht Beides.
Neben ihr zeigt sich Nemesis, die Aufrechterhalten" der Weltordnung, als Nichterill
dasitzend, aber finstern Zorn im Blicke; in der Rechten einen blühenden Lorbeer¬
zweig, in der Linken den Zügel des ausgleichenden Maßes, stützt sie den einen
Arm auf das rollende Rad, das alles Unebene ebnet. Die dritte im Bunde ist
Auangke, das Fatum. Sie.setzt mit übergeschlagenem Bein, das Haupt verhüllt.
Unter ihr liegen zwei zerbrochene Urnen, ans denen sie die Loose der Sterblichen
gezogen. Jetzt sind sie leer. Ueber ihr der sich putzende Pfau, das eitle Leben;
neben ihr spielen in der Luft zwei heitere Libellen, unter deren sorglosen Lebens¬
genuß eine Schlange den Nachen aufsperrt, sie zu verschlingen. Aber ein guter
Genius wirft lächelnd eine Mans in den Schlund des Ungethüms. Er schließt
den Arabeskenreigen der ersten Seite, und mit ihm Cultur und Geschichte des
Alterthums. Jene zuletzt erwähnten drei heidnischen Mächte sind freilich durch
deu Geist des Christenthums überwältigt. Doch geschah es schwerlich absichtslos,
daß der Künstler sie nach dem Kreuze noch erscheinen läßt. In der That ragten
sie und ragen sie noch als mystische Schicksalsmächte tief in die christliche Zeit
herein.

Wo wir Hinblicken auf diesem fast überreichen Plan einer phautasiegeborenen
Gcstältenwelt, überall Tiefe der Gedanken, vollendete Kunst der Darstellung.
Das Erhabene wie das Milde und Schöne, das Furchtbare wie das Liebliche,
die gewaltigste Tragik und das kecke Spiel des Humors, in welchem freilich'ein
sinniger Ernst nirgends zu verkennen, alle Formen der Auffassung und der Ausfüh¬
rung vereinigen sich zu einer Gesammtheit von Theilen, in deren jedem einzelnen
der große Cultnrgedanke lebendig ist, welcher das Ganze beseelt. In dem, waS
an dieser Welt von Gemälden philosophisch, didaktisch und symbolisch ist, möchten
wir allerdings weniger eine besondere Gattung, als eine Abart der .Kunst erblicke",
weniger die freie Kunst, als die Kunst im Dienste der Wissenschaft. Aber es brei¬
tet sich auf deu zahlreichen Feldern zugleich so viel des unbeschreiblich Schönen,
so viel reine Darstellung hoher Gedanken in edler und freier Kunstform aus, daß
wir trotz mancher Differenzen des Werkes mit unsrer Welt- und Kunstanschauung
A. G. die unvergleichliche Größe desselben bewundern müssen.




bigcn und Gerechten. Noch einmal zeigt uns der Künstler die principiellen
Mächte des Heidenthums, die von der neuen Gottesidee überwunden oder ver¬
wandelt werden. Zuerst Ate, die unheilvolle Verblendung, die verderbliche Un¬
besonnenheit, die Schuld. Ihre Augen sind verbunden. Aber sie schreit wild
nud heftig. Ihre Linke schwingt einen Dolch, die Rechte eine Fackel, zu welcher
Käfer, Libellen und Schmetterlinge in verblendender Sinnenlust eilen, den Tod zu
finden. Eine hat sich bereits zum Sterben verseugt. Ueber der Ate läuft der
Fuchs, die schlaue Verführung; von dem Nagel im Kopfe weiß man nicht recht,
soll er ihre Bornirtheit, soll er ihren Untergang bezeichnen; vielleicht Beides.
Neben ihr zeigt sich Nemesis, die Aufrechterhalten» der Weltordnung, als Nichterill
dasitzend, aber finstern Zorn im Blicke; in der Rechten einen blühenden Lorbeer¬
zweig, in der Linken den Zügel des ausgleichenden Maßes, stützt sie den einen
Arm auf das rollende Rad, das alles Unebene ebnet. Die dritte im Bunde ist
Auangke, das Fatum. Sie.setzt mit übergeschlagenem Bein, das Haupt verhüllt.
Unter ihr liegen zwei zerbrochene Urnen, ans denen sie die Loose der Sterblichen
gezogen. Jetzt sind sie leer. Ueber ihr der sich putzende Pfau, das eitle Leben;
neben ihr spielen in der Luft zwei heitere Libellen, unter deren sorglosen Lebens¬
genuß eine Schlange den Nachen aufsperrt, sie zu verschlingen. Aber ein guter
Genius wirft lächelnd eine Mans in den Schlund des Ungethüms. Er schließt
den Arabeskenreigen der ersten Seite, und mit ihm Cultur und Geschichte des
Alterthums. Jene zuletzt erwähnten drei heidnischen Mächte sind freilich durch
deu Geist des Christenthums überwältigt. Doch geschah es schwerlich absichtslos,
daß der Künstler sie nach dem Kreuze noch erscheinen läßt. In der That ragten
sie und ragen sie noch als mystische Schicksalsmächte tief in die christliche Zeit
herein.

Wo wir Hinblicken auf diesem fast überreichen Plan einer phautasiegeborenen
Gcstältenwelt, überall Tiefe der Gedanken, vollendete Kunst der Darstellung.
Das Erhabene wie das Milde und Schöne, das Furchtbare wie das Liebliche,
die gewaltigste Tragik und das kecke Spiel des Humors, in welchem freilich'ein
sinniger Ernst nirgends zu verkennen, alle Formen der Auffassung und der Ausfüh¬
rung vereinigen sich zu einer Gesammtheit von Theilen, in deren jedem einzelnen
der große Cultnrgedanke lebendig ist, welcher das Ganze beseelt. In dem, waS
an dieser Welt von Gemälden philosophisch, didaktisch und symbolisch ist, möchten
wir allerdings weniger eine besondere Gattung, als eine Abart der .Kunst erblicke»,
weniger die freie Kunst, als die Kunst im Dienste der Wissenschaft. Aber es brei¬
tet sich auf deu zahlreichen Feldern zugleich so viel des unbeschreiblich Schönen,
so viel reine Darstellung hoher Gedanken in edler und freier Kunstform aus, daß
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A. G. die unvergleichliche Größe desselben bewundern müssen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/258>, abgerufen am 07.05.2024.