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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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diese Empörung über ihre Grenzen hinausging, und nicht blos die geistlose
Form der neuen Herrschaft, sondern auch deren , sittliche" Inhalt traf. Trotz
seiner Verachtung gegen das Volt und seines Hasses gegen alle Ideen der Frei¬
heit hatte doch Napoleon einen großen Theil von den. Lehren der Philosophie
und der Revolution nicht nur angenommen, sondern zum Theil erst in Ausübung
gesetzt. Die Reaction 'gegen ihn richtete sich also zugleich gegen den Geist des
-18. Jahrhunderts, dessen Sohn er war. Fast überall nahm sie eine mystisch-
religiöse Färbung an, und glaubte die Freiheit des Individuums uicht anders
widerherstellen zu können, als durch die Rückkehr zu den alten und indivi¬
duellen Formen des Staates, der Kirche und der Gesellschaft, welche die Revo¬
lution verschüttet hatte.

Frau von stallt macht eine seltene und höchst anerkennenswerthe Ausnahme.
Sie hat es gewagt, die Freiheit und Humanität in ihrer reinen Form festzuhalten,
und die Einseitigkeiten der Aufklärung dadurch wieder gut zu machen, daß sie es
mit ihren Problemen ernst nahm. Denn der wesentliche Irrthum im Princip der
Ausklärung war die Gleichgültigkeit gegen das individuelle Leben, welches in allge-
meine Formeln begraben wurde, jene Gleichgültigkeit, die sich in dem Schreckens¬
system Robespierre's und Marat'ö eben so ausdrückte, wie in dem geistlose"
Materialismus von Helvetius. Während also Chateaubriand, de Maistre, Bonald
n. s. w. aus der Knechtschaft des staatlichen Mechanismus in die Knechtschaft
des im Grunde eben so mechanischen Kirchenthums flüchteten, trat Frau v. StaÄ
für die Anerkennung der freien Individualität in die Schranken, für die Indi¬
vidualität der Volker, wie für die der Einzelnen, für die Unmittelbarkeit der
Empfindung gegen die Gemeinplätze des Verstandes und der Convenienz.

Es war charakteristisch, daß zuerst ein Weib mit Ausdauer und Erschlossen-
heit einem strengen Despotismus gegenüber diesen Gedanken durchzuführen wagte,
den unsre dentschen Dichter des vorigen Jahrhunderts'gleichsam vorahnend ausge¬
sprochen hatten. Werther, die Ränder u. s. w. müssen uus als prophetische
Stimmen gelten, deren Bedeutung erst ein Menschenalter darauf aus Licht gestellt
wurde. Eben so charakteristisch ist es, daß Napoleon im instinctartigen Vorgefühl
vou der Bedeutung einer geistigen Richtung, die einst seinen Sturz herbeiführen
sollte, dieses Weib einer ausdauernden und erbitterten Verfolgung würdigte, die
eben so für die Kleinlichkeit feiner Empftuduug, als für die geistige Kühnheit
der Dichterin, die mit dem Herrn der halben Welt in die Schranken trat, eM
Zeugniß ablegt.'

Wenn die neue Literatur gegen den herrschenden französischen Geist in Oppo^
sitivn trat, so war sie doch nicht ohne Vorbild in der frühern Entwickelung der
Poesie. Nei'en den schulgerechteu Dichtern und Denkern, die mit der mathe¬
matischen oder militärischen Geschlossenheit der französischen Sprache ihrem Z"'l
nachgingen, finden wir immer einzelne kühne Geister, die sich isolirten und ""t


diese Empörung über ihre Grenzen hinausging, und nicht blos die geistlose
Form der neuen Herrschaft, sondern auch deren , sittliche» Inhalt traf. Trotz
seiner Verachtung gegen das Volt und seines Hasses gegen alle Ideen der Frei¬
heit hatte doch Napoleon einen großen Theil von den. Lehren der Philosophie
und der Revolution nicht nur angenommen, sondern zum Theil erst in Ausübung
gesetzt. Die Reaction 'gegen ihn richtete sich also zugleich gegen den Geist des
-18. Jahrhunderts, dessen Sohn er war. Fast überall nahm sie eine mystisch-
religiöse Färbung an, und glaubte die Freiheit des Individuums uicht anders
widerherstellen zu können, als durch die Rückkehr zu den alten und indivi¬
duellen Formen des Staates, der Kirche und der Gesellschaft, welche die Revo¬
lution verschüttet hatte.

Frau von stallt macht eine seltene und höchst anerkennenswerthe Ausnahme.
Sie hat es gewagt, die Freiheit und Humanität in ihrer reinen Form festzuhalten,
und die Einseitigkeiten der Aufklärung dadurch wieder gut zu machen, daß sie es
mit ihren Problemen ernst nahm. Denn der wesentliche Irrthum im Princip der
Ausklärung war die Gleichgültigkeit gegen das individuelle Leben, welches in allge-
meine Formeln begraben wurde, jene Gleichgültigkeit, die sich in dem Schreckens¬
system Robespierre's und Marat'ö eben so ausdrückte, wie in dem geistlose»
Materialismus von Helvetius. Während also Chateaubriand, de Maistre, Bonald
n. s. w. aus der Knechtschaft des staatlichen Mechanismus in die Knechtschaft
des im Grunde eben so mechanischen Kirchenthums flüchteten, trat Frau v. StaÄ
für die Anerkennung der freien Individualität in die Schranken, für die Indi¬
vidualität der Volker, wie für die der Einzelnen, für die Unmittelbarkeit der
Empfindung gegen die Gemeinplätze des Verstandes und der Convenienz.

Es war charakteristisch, daß zuerst ein Weib mit Ausdauer und Erschlossen-
heit einem strengen Despotismus gegenüber diesen Gedanken durchzuführen wagte,
den unsre dentschen Dichter des vorigen Jahrhunderts'gleichsam vorahnend ausge¬
sprochen hatten. Werther, die Ränder u. s. w. müssen uus als prophetische
Stimmen gelten, deren Bedeutung erst ein Menschenalter darauf aus Licht gestellt
wurde. Eben so charakteristisch ist es, daß Napoleon im instinctartigen Vorgefühl
vou der Bedeutung einer geistigen Richtung, die einst seinen Sturz herbeiführen
sollte, dieses Weib einer ausdauernden und erbitterten Verfolgung würdigte, die
eben so für die Kleinlichkeit feiner Empftuduug, als für die geistige Kühnheit
der Dichterin, die mit dem Herrn der halben Welt in die Schranken trat, eM
Zeugniß ablegt.'

Wenn die neue Literatur gegen den herrschenden französischen Geist in Oppo^
sitivn trat, so war sie doch nicht ohne Vorbild in der frühern Entwickelung der
Poesie. Nei'en den schulgerechteu Dichtern und Denkern, die mit der mathe¬
matischen oder militärischen Geschlossenheit der französischen Sprache ihrem Z"'l
nachgingen, finden wir immer einzelne kühne Geister, die sich isolirten und »»t


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[0294] diese Empörung über ihre Grenzen hinausging, und nicht blos die geistlose Form der neuen Herrschaft, sondern auch deren , sittliche» Inhalt traf. Trotz seiner Verachtung gegen das Volt und seines Hasses gegen alle Ideen der Frei¬ heit hatte doch Napoleon einen großen Theil von den. Lehren der Philosophie und der Revolution nicht nur angenommen, sondern zum Theil erst in Ausübung gesetzt. Die Reaction 'gegen ihn richtete sich also zugleich gegen den Geist des -18. Jahrhunderts, dessen Sohn er war. Fast überall nahm sie eine mystisch- religiöse Färbung an, und glaubte die Freiheit des Individuums uicht anders widerherstellen zu können, als durch die Rückkehr zu den alten und indivi¬ duellen Formen des Staates, der Kirche und der Gesellschaft, welche die Revo¬ lution verschüttet hatte. Frau von stallt macht eine seltene und höchst anerkennenswerthe Ausnahme. Sie hat es gewagt, die Freiheit und Humanität in ihrer reinen Form festzuhalten, und die Einseitigkeiten der Aufklärung dadurch wieder gut zu machen, daß sie es mit ihren Problemen ernst nahm. Denn der wesentliche Irrthum im Princip der Ausklärung war die Gleichgültigkeit gegen das individuelle Leben, welches in allge- meine Formeln begraben wurde, jene Gleichgültigkeit, die sich in dem Schreckens¬ system Robespierre's und Marat'ö eben so ausdrückte, wie in dem geistlose» Materialismus von Helvetius. Während also Chateaubriand, de Maistre, Bonald n. s. w. aus der Knechtschaft des staatlichen Mechanismus in die Knechtschaft des im Grunde eben so mechanischen Kirchenthums flüchteten, trat Frau v. StaÄ für die Anerkennung der freien Individualität in die Schranken, für die Indi¬ vidualität der Volker, wie für die der Einzelnen, für die Unmittelbarkeit der Empfindung gegen die Gemeinplätze des Verstandes und der Convenienz. Es war charakteristisch, daß zuerst ein Weib mit Ausdauer und Erschlossen- heit einem strengen Despotismus gegenüber diesen Gedanken durchzuführen wagte, den unsre dentschen Dichter des vorigen Jahrhunderts'gleichsam vorahnend ausge¬ sprochen hatten. Werther, die Ränder u. s. w. müssen uus als prophetische Stimmen gelten, deren Bedeutung erst ein Menschenalter darauf aus Licht gestellt wurde. Eben so charakteristisch ist es, daß Napoleon im instinctartigen Vorgefühl vou der Bedeutung einer geistigen Richtung, die einst seinen Sturz herbeiführen sollte, dieses Weib einer ausdauernden und erbitterten Verfolgung würdigte, die eben so für die Kleinlichkeit feiner Empftuduug, als für die geistige Kühnheit der Dichterin, die mit dem Herrn der halben Welt in die Schranken trat, eM Zeugniß ablegt.' Wenn die neue Literatur gegen den herrschenden französischen Geist in Oppo^ sitivn trat, so war sie doch nicht ohne Vorbild in der frühern Entwickelung der Poesie. Nei'en den schulgerechteu Dichtern und Denkern, die mit der mathe¬ matischen oder militärischen Geschlossenheit der französischen Sprache ihrem Z"'l nachgingen, finden wir immer einzelne kühne Geister, die sich isolirten und »»t

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/294>, abgerufen am 29.04.2024.