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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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ihren Gedanken und Empfindungen in die Tiefe gingen. So Montaigne im -16.,
Pascal im -17., Rousseau im -18. Jahrhundert. Gerade weil bei der strengen
Disciplin der französischen Sprache dazu eine gewisse Kühnheit und Gewaltsamkeit
gehörte, verfielen sie zuweilen in Paradoxien, die weit über die Einfalle unsrer
deutschen Mystiker hinausgingen, weil bei unsrer Zerstückelung die Regellosigkeit
und damit die Eigenthümlichkeit des freien Schaffens bequemer und natürlicher
war. Frau von StaÄ bildet in dieser Kette von einzelnen Dichtern den Ueber¬
gang zu Georges Sand, die in unsren Tagen dem herrschenden Materialismus
der Poesie gegenüber sich mit ähnlichen Problemen der innern Welt beschäf¬
tigt hat.

Frau v. Staöl unterscheidet sich dadurch von ihren Vorgängern und Nach¬
folgern, daß ihre Dichtung nicht aus der Einsamkeit, sondern ans dem Schooß
der Gesellschaft hervorging. In den Salons einer geistreichen Societät erzogen,
bildete sich ihr Talent in.ehr zur Konversation, als zur künstlerischen Verdichtung
aus. Mit der unruhigen hastigen Neugierde jener Cirkel, die überall nach, unge¬
wohnte" Eindrücken strebt, ist sie unsren deutschen Dichtern, die alle an einsames
Prvduciren gewohnt waren, zuweilen sehr unbequem geworden, und sie erscheint
ihnen gegeuüber wie eine Frau vou Welt, die nur nach dem äußerliche,, Auflug
der Bildung und der künstlerischen Freude strebt, während sie in, Verhältniß zu
ihren Landsleuten als eine Vertreterin des freiern und tiefern Denkens, wie es in
Deutschland Sitte war, dasteht. Die Gesellschaft hatte ihr Herz nicht verdorben,
ihren Verstand nicht blasirt. Schon dnrch ihre protestantische Erziehung war sie
größern Ernst in sittlichen und religiöse,, Dingen gewöhnt, als die Mehr-
Zahl ihrer Landsleute, und die schweren Schicksale, die sie im Laufe ihres viel-
bewegten Lebens trafen, gaben diesem Ernst eine gewisse Heiligung.

Germaine Necker, die Tochter des Ministers, war 1766 in der Fülle des
Wohlstands geboren. Ihre Mutter war eine strenge Calviuistin, ihr Vater der
Weltmann, wie er aus der Philosophie des -18. Jahrhunderts und einer ange¬
strengten und ausgedehnten Geschäftstätigkeit hervorgehen mußte. Schon als
Kind wurde sie in den Umgang der bedeutenden Männer, die sich in dem Hanse
^)res Vaters versammelten, eingeführt und imponirte ihnen durch die naive Keck¬
st ihrer Fragen und Einfälle. Sie machte schon in der frühesten Jugend Ans¬
age aus Montesquieu und anderen Philosophen, schrieb kleine Novellen, Theater¬
stücke und Gedichte, meist sentimentalen Inhalts und fand sehr bald in Rousseau
den Propheten ihrer Stimmung, jener schwermüthigen Begeisterung für die Natur,
Liebe und Freundschaft, für das Genie und für das Unglück, die eine
Opposition gegen die herrschenden Ansichten der Gesellschaft war. Diese Empfin¬
dungen legte sie in den Luttres sur ^. .!. Nous-hölen nieder (-1787), einer offenen
Hymne, die keineswegs mit den leitenden Ansichten ihrer Cirkel im Ein-
^"ng stand.


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ihren Gedanken und Empfindungen in die Tiefe gingen. So Montaigne im -16.,
Pascal im -17., Rousseau im -18. Jahrhundert. Gerade weil bei der strengen
Disciplin der französischen Sprache dazu eine gewisse Kühnheit und Gewaltsamkeit
gehörte, verfielen sie zuweilen in Paradoxien, die weit über die Einfalle unsrer
deutschen Mystiker hinausgingen, weil bei unsrer Zerstückelung die Regellosigkeit
und damit die Eigenthümlichkeit des freien Schaffens bequemer und natürlicher
war. Frau von StaÄ bildet in dieser Kette von einzelnen Dichtern den Ueber¬
gang zu Georges Sand, die in unsren Tagen dem herrschenden Materialismus
der Poesie gegenüber sich mit ähnlichen Problemen der innern Welt beschäf¬
tigt hat.

Frau v. Staöl unterscheidet sich dadurch von ihren Vorgängern und Nach¬
folgern, daß ihre Dichtung nicht aus der Einsamkeit, sondern ans dem Schooß
der Gesellschaft hervorging. In den Salons einer geistreichen Societät erzogen,
bildete sich ihr Talent in.ehr zur Konversation, als zur künstlerischen Verdichtung
aus. Mit der unruhigen hastigen Neugierde jener Cirkel, die überall nach, unge¬
wohnte» Eindrücken strebt, ist sie unsren deutschen Dichtern, die alle an einsames
Prvduciren gewohnt waren, zuweilen sehr unbequem geworden, und sie erscheint
ihnen gegeuüber wie eine Frau vou Welt, die nur nach dem äußerliche,, Auflug
der Bildung und der künstlerischen Freude strebt, während sie in, Verhältniß zu
ihren Landsleuten als eine Vertreterin des freiern und tiefern Denkens, wie es in
Deutschland Sitte war, dasteht. Die Gesellschaft hatte ihr Herz nicht verdorben,
ihren Verstand nicht blasirt. Schon dnrch ihre protestantische Erziehung war sie
größern Ernst in sittlichen und religiöse,, Dingen gewöhnt, als die Mehr-
Zahl ihrer Landsleute, und die schweren Schicksale, die sie im Laufe ihres viel-
bewegten Lebens trafen, gaben diesem Ernst eine gewisse Heiligung.

Germaine Necker, die Tochter des Ministers, war 1766 in der Fülle des
Wohlstands geboren. Ihre Mutter war eine strenge Calviuistin, ihr Vater der
Weltmann, wie er aus der Philosophie des -18. Jahrhunderts und einer ange¬
strengten und ausgedehnten Geschäftstätigkeit hervorgehen mußte. Schon als
Kind wurde sie in den Umgang der bedeutenden Männer, die sich in dem Hanse
^)res Vaters versammelten, eingeführt und imponirte ihnen durch die naive Keck¬
st ihrer Fragen und Einfälle. Sie machte schon in der frühesten Jugend Ans¬
age aus Montesquieu und anderen Philosophen, schrieb kleine Novellen, Theater¬
stücke und Gedichte, meist sentimentalen Inhalts und fand sehr bald in Rousseau
den Propheten ihrer Stimmung, jener schwermüthigen Begeisterung für die Natur,
Liebe und Freundschaft, für das Genie und für das Unglück, die eine
Opposition gegen die herrschenden Ansichten der Gesellschaft war. Diese Empfin¬
dungen legte sie in den Luttres sur ^. .!. Nous-hölen nieder (-1787), einer offenen
Hymne, die keineswegs mit den leitenden Ansichten ihrer Cirkel im Ein-
^"ng stand.


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[0295] ihren Gedanken und Empfindungen in die Tiefe gingen. So Montaigne im -16., Pascal im -17., Rousseau im -18. Jahrhundert. Gerade weil bei der strengen Disciplin der französischen Sprache dazu eine gewisse Kühnheit und Gewaltsamkeit gehörte, verfielen sie zuweilen in Paradoxien, die weit über die Einfalle unsrer deutschen Mystiker hinausgingen, weil bei unsrer Zerstückelung die Regellosigkeit und damit die Eigenthümlichkeit des freien Schaffens bequemer und natürlicher war. Frau von StaÄ bildet in dieser Kette von einzelnen Dichtern den Ueber¬ gang zu Georges Sand, die in unsren Tagen dem herrschenden Materialismus der Poesie gegenüber sich mit ähnlichen Problemen der innern Welt beschäf¬ tigt hat. Frau v. Staöl unterscheidet sich dadurch von ihren Vorgängern und Nach¬ folgern, daß ihre Dichtung nicht aus der Einsamkeit, sondern ans dem Schooß der Gesellschaft hervorging. In den Salons einer geistreichen Societät erzogen, bildete sich ihr Talent in.ehr zur Konversation, als zur künstlerischen Verdichtung aus. Mit der unruhigen hastigen Neugierde jener Cirkel, die überall nach, unge¬ wohnte» Eindrücken strebt, ist sie unsren deutschen Dichtern, die alle an einsames Prvduciren gewohnt waren, zuweilen sehr unbequem geworden, und sie erscheint ihnen gegeuüber wie eine Frau vou Welt, die nur nach dem äußerliche,, Auflug der Bildung und der künstlerischen Freude strebt, während sie in, Verhältniß zu ihren Landsleuten als eine Vertreterin des freiern und tiefern Denkens, wie es in Deutschland Sitte war, dasteht. Die Gesellschaft hatte ihr Herz nicht verdorben, ihren Verstand nicht blasirt. Schon dnrch ihre protestantische Erziehung war sie größern Ernst in sittlichen und religiöse,, Dingen gewöhnt, als die Mehr- Zahl ihrer Landsleute, und die schweren Schicksale, die sie im Laufe ihres viel- bewegten Lebens trafen, gaben diesem Ernst eine gewisse Heiligung. Germaine Necker, die Tochter des Ministers, war 1766 in der Fülle des Wohlstands geboren. Ihre Mutter war eine strenge Calviuistin, ihr Vater der Weltmann, wie er aus der Philosophie des -18. Jahrhunderts und einer ange¬ strengten und ausgedehnten Geschäftstätigkeit hervorgehen mußte. Schon als Kind wurde sie in den Umgang der bedeutenden Männer, die sich in dem Hanse ^)res Vaters versammelten, eingeführt und imponirte ihnen durch die naive Keck¬ st ihrer Fragen und Einfälle. Sie machte schon in der frühesten Jugend Ans¬ age aus Montesquieu und anderen Philosophen, schrieb kleine Novellen, Theater¬ stücke und Gedichte, meist sentimentalen Inhalts und fand sehr bald in Rousseau den Propheten ihrer Stimmung, jener schwermüthigen Begeisterung für die Natur, Liebe und Freundschaft, für das Genie und für das Unglück, die eine Opposition gegen die herrschenden Ansichten der Gesellschaft war. Diese Empfin¬ dungen legte sie in den Luttres sur ^. .!. Nous-hölen nieder (-1787), einer offenen Hymne, die keineswegs mit den leitenden Ansichten ihrer Cirkel im Ein- ^"ng stand. 37*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/295>, abgerufen am 15.05.2024.