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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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schreiben können, als Clemens. -- Godwi selbst ist ein Vorbild der späteren
Blasirten, die unsre Literatur in neuerer Zeit überfluthen. . Einmal sitzt er allein
am Tisch, spielt mit dem Messer, "und fühlt jene fatale Ruhe der Selbst¬
verachtung, um die sich schöner Schmerz bewegt." Trotz dieses wun¬
derlichen Ausdrucks ist es doch wenigstens eine Spur von Realismus, wenn von
ihm gesagt wird, er empfinde Alles, ,,weis ein Mensch leidet, dem das Leben
durch innere Fülle und äußern Ueberfluß lange so leicht als Tugend und Laster
war, und der mit wenigem geretteten Selbstgefühl in die Geschichte einfacher
liebender Menschen tritt, qhne doch von ihnen eigentlich als ein Wesen anerkannt
zu werden, das wirklich Theil an ihnen hat." Auch diese Person zeichnet ihre
Einfälle in ein Tagebuch. Sie zeigen Bitterkeit und Selbstverachtung, mitunter
eine Art vou Mnthfassen, die einer gewohnten Frivolität sehr ähnlich ist; dabei
doch guten Willen, aber selbst sür diesen guten Willen Verachtung. Welcher Art
die Einfälle sind, möge man ans einigen Beispielen sehen. "Vor vielen Dingen
soll man Ehrfurcht haben, man soll sie ehren, und nirgends möchte ich so gerne
laut sprechen oder pfeifen, als in der Kirche, nicht um gehört zu werdeu, sondern
um es zu hören; ich möchte auch wohl gerne in einem liederlichen Hause beten,
und über eben diese Gelüste kann ich sehr traurig werden." -- "Ich habe immer
eine große Anlage gehabt, Weibern, die sich mit ihrer Tugend breit machten,
etwas die Ehre abzuschneiden und ihre Tugend zu schmälern, damit die andern
sich nicht so ängstlich drücken müßten, die ihre Tugend selbst Schmälerten, und
das that ich vielleicht gar des Wortspiels wegen."

Es ist merkwürdig, wie wenig Entwickelung wir in Brentano's Dichtungen
verfolgen köunen. Der von dem Dichter selbst als verwildert bezeichnete Roman:
"Godwi, oder das steinerne Bild der Mutter", erschien 180-1 in seinem 24. Jahre;
"die lustigen Musikanten" in demselben Jahre, "Ponce de Leon" 180i, "die
Gründung Prags" 1817, "die Philister" 1811; zwischen allen diesen Dichtungen
ist kein wesentlicher Unterschied. Die trübselige Stimmung des ersten und des
letzten ist vollkommen gleich. Die beiden Hauptereignisse seines Lebens, der Tod
seiner Frau, Sophie, die von ihrem ersten Manne Mcreau geschieden war, nach
einjähriger Ehe, und sein Eintritt ins Kloster Dülmen 1818 finden in diesen
Dichtungen keine Vermittelung. Eine verständige Lebensbeschreibung, die freilich
nur von einem Solchen herrühren kann, der ihn zugleich genau gekannt und über¬
sehen hat, wäre eine nicht uninteressante Aufgabe.

Den Nest des fünften Bandes nehmen drei kleine Skizzen ein. Die erste,
deren Titel (der beiläufig mit "Entweder" anfängt) zu lang ist, um ihn hier an¬
zuführen, ist im Geschmack der Jean Paul'schen Excnrse gehalten, mit den kind¬
lichen Beimischungen, die bei Brentano nicht fehlen dürfen, z. B. Häschen, die
Ostereier legen u. s. w. Der Hauptinhalt ist die Empfindung, die ein Herin?
bei einer vorzüglich schönen Symphonie hat. -- Die zweite Skizze: "Der Phi-


schreiben können, als Clemens. — Godwi selbst ist ein Vorbild der späteren
Blasirten, die unsre Literatur in neuerer Zeit überfluthen. . Einmal sitzt er allein
am Tisch, spielt mit dem Messer, „und fühlt jene fatale Ruhe der Selbst¬
verachtung, um die sich schöner Schmerz bewegt." Trotz dieses wun¬
derlichen Ausdrucks ist es doch wenigstens eine Spur von Realismus, wenn von
ihm gesagt wird, er empfinde Alles, ,,weis ein Mensch leidet, dem das Leben
durch innere Fülle und äußern Ueberfluß lange so leicht als Tugend und Laster
war, und der mit wenigem geretteten Selbstgefühl in die Geschichte einfacher
liebender Menschen tritt, qhne doch von ihnen eigentlich als ein Wesen anerkannt
zu werden, das wirklich Theil an ihnen hat." Auch diese Person zeichnet ihre
Einfälle in ein Tagebuch. Sie zeigen Bitterkeit und Selbstverachtung, mitunter
eine Art vou Mnthfassen, die einer gewohnten Frivolität sehr ähnlich ist; dabei
doch guten Willen, aber selbst sür diesen guten Willen Verachtung. Welcher Art
die Einfälle sind, möge man ans einigen Beispielen sehen. „Vor vielen Dingen
soll man Ehrfurcht haben, man soll sie ehren, und nirgends möchte ich so gerne
laut sprechen oder pfeifen, als in der Kirche, nicht um gehört zu werdeu, sondern
um es zu hören; ich möchte auch wohl gerne in einem liederlichen Hause beten,
und über eben diese Gelüste kann ich sehr traurig werden." — „Ich habe immer
eine große Anlage gehabt, Weibern, die sich mit ihrer Tugend breit machten,
etwas die Ehre abzuschneiden und ihre Tugend zu schmälern, damit die andern
sich nicht so ängstlich drücken müßten, die ihre Tugend selbst Schmälerten, und
das that ich vielleicht gar des Wortspiels wegen."

Es ist merkwürdig, wie wenig Entwickelung wir in Brentano's Dichtungen
verfolgen köunen. Der von dem Dichter selbst als verwildert bezeichnete Roman:
„Godwi, oder das steinerne Bild der Mutter", erschien 180-1 in seinem 24. Jahre;
„die lustigen Musikanten" in demselben Jahre, „Ponce de Leon" 180i, „die
Gründung Prags" 1817, „die Philister" 1811; zwischen allen diesen Dichtungen
ist kein wesentlicher Unterschied. Die trübselige Stimmung des ersten und des
letzten ist vollkommen gleich. Die beiden Hauptereignisse seines Lebens, der Tod
seiner Frau, Sophie, die von ihrem ersten Manne Mcreau geschieden war, nach
einjähriger Ehe, und sein Eintritt ins Kloster Dülmen 1818 finden in diesen
Dichtungen keine Vermittelung. Eine verständige Lebensbeschreibung, die freilich
nur von einem Solchen herrühren kann, der ihn zugleich genau gekannt und über¬
sehen hat, wäre eine nicht uninteressante Aufgabe.

Den Nest des fünften Bandes nehmen drei kleine Skizzen ein. Die erste,
deren Titel (der beiläufig mit „Entweder" anfängt) zu lang ist, um ihn hier an¬
zuführen, ist im Geschmack der Jean Paul'schen Excnrse gehalten, mit den kind¬
lichen Beimischungen, die bei Brentano nicht fehlen dürfen, z. B. Häschen, die
Ostereier legen u. s. w. Der Hauptinhalt ist die Empfindung, die ein Herin?
bei einer vorzüglich schönen Symphonie hat. -- Die zweite Skizze: „Der Phi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/506>, abgerufen am 07.05.2024.