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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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fassung der Antike hervorgegangen, und so haben wir dort wahre Darstellung
des Gekünstelten, hier gekünstelte Nachahmung des historisch Echten. Sobald
jene conventionelle Wahrheit mit dieser conventionellen Verkünstelung verbunden
wird, erscheinen Racine und Corneille auf ihrem eigenen Gebiete so herb ironistrt,
daß sie uicht nur kein neues Leben gewinnen, sondern ihr bisheriges einbüßen.
Dieser unvermittelte Widerspruch bleibt im Spiel der Rachel bestehen; so glänzend
ihr Talent, so fein studirt jeder Zug ihrer Darstellung, so mannigfach bewegt ihre
Rede, so gewaltig der entfesselte Sturm ihrer Leidenschaft: ihre Darstellungsweise
ist dennoch Manier.

Die Intentionen des Dichters geben dem Charakterbilde die ideale Form,
zu dessen sinnlicher Gestaltung der Schauspieler das Material ans dem Leben
schöpft. Er muß die Grenzen einhalten, welche der Dichter seiner idealen Welt
gezogen, aber er darf nicht ausschließlich dem psychischen Leben das Gedachte
nachspüren, denn die Sprache kann immer nur die Coutoure des Lebens in sich
aufnehmen und muß der Phantasie die Ausfüllung des Bildes mit Fleisch und
Blut, mit einem sinnlich lebendigen Körper überlassen. Die Phantasie des Schau¬
spielers wird dazu nur dann befähigt sein, wenn sie die Fülle der menschlichen
Lebenswirklichkeit in sich trägt. Durch deren Ausscheidung aus der Unendlichkeit
mannigfaltigster Beziehungen und Einfügung in den Gesammtbau des Kunstwerks
soll sie ihre idealen Formen empfangen und wahre Charaklerdarstellung bleiben
auch innerhalb der poetischen Welt, welche des Dichters Phantasie geschaffen-

Daß es mir nicht einfallen kann, die Ansprüche des äußern Geschmacks und
eines in der Sitte begründeten Anstandes von den Forderungen an das Urtheil
des Schauspielers auszuschließen, versteht sich von selbst. Aber im Uebrigen soll
er nicht idealisiren wollen, sondern Charaktere darstellen nach Anleitung des
Lebens. Wir wollen in der Darstellung die Atmosphäre der wirklichen Existenz
in Zeit und Raum empfinden, in welcher gerade diese bestimmte Individualität
so geworden, wie sie ist. Der GattungSmenschen nach Vorschrift und Recipe der
alten Aesthetik sind wir überdrüssig, und mögen lieber eine überderbe Wirklichkeit
ertragen, als ihre ästhetische Verflüchtigung in verfeinerte, nervenschwache Ideal-
gestalten.

Wenn die Urtheilskraft und das plastische Maß einer gesunden Natur bei
Auguste Crelinger die Romantik einer Kunstrichtung, welche ein dem Leben ent¬
fremdendes Ideal erstrebt, in den Schranken eines großen und edlen Styls zu
halten wußte, so unterstützte sie dabei die überzengnngsvolle Hoheit und Reinheit,
in der diese Richtung die Zeit ihrer Jugend beherrschte. Heute aber, da der
Enthusiasmus jener Kunstepoche verklungen ist, und höchstens in der Erinnerung
noch zuweilen erwacht, würde ans demselben Wege nur eine matte Copie geschaffen
werden. Im Kreise unsrer jüngern Schauspielerinnen existirt manches Beispiel
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fassung der Antike hervorgegangen, und so haben wir dort wahre Darstellung
des Gekünstelten, hier gekünstelte Nachahmung des historisch Echten. Sobald
jene conventionelle Wahrheit mit dieser conventionellen Verkünstelung verbunden
wird, erscheinen Racine und Corneille auf ihrem eigenen Gebiete so herb ironistrt,
daß sie uicht nur kein neues Leben gewinnen, sondern ihr bisheriges einbüßen.
Dieser unvermittelte Widerspruch bleibt im Spiel der Rachel bestehen; so glänzend
ihr Talent, so fein studirt jeder Zug ihrer Darstellung, so mannigfach bewegt ihre
Rede, so gewaltig der entfesselte Sturm ihrer Leidenschaft: ihre Darstellungsweise
ist dennoch Manier.

Die Intentionen des Dichters geben dem Charakterbilde die ideale Form,
zu dessen sinnlicher Gestaltung der Schauspieler das Material ans dem Leben
schöpft. Er muß die Grenzen einhalten, welche der Dichter seiner idealen Welt
gezogen, aber er darf nicht ausschließlich dem psychischen Leben das Gedachte
nachspüren, denn die Sprache kann immer nur die Coutoure des Lebens in sich
aufnehmen und muß der Phantasie die Ausfüllung des Bildes mit Fleisch und
Blut, mit einem sinnlich lebendigen Körper überlassen. Die Phantasie des Schau¬
spielers wird dazu nur dann befähigt sein, wenn sie die Fülle der menschlichen
Lebenswirklichkeit in sich trägt. Durch deren Ausscheidung aus der Unendlichkeit
mannigfaltigster Beziehungen und Einfügung in den Gesammtbau des Kunstwerks
soll sie ihre idealen Formen empfangen und wahre Charaklerdarstellung bleiben
auch innerhalb der poetischen Welt, welche des Dichters Phantasie geschaffen-

Daß es mir nicht einfallen kann, die Ansprüche des äußern Geschmacks und
eines in der Sitte begründeten Anstandes von den Forderungen an das Urtheil
des Schauspielers auszuschließen, versteht sich von selbst. Aber im Uebrigen soll
er nicht idealisiren wollen, sondern Charaktere darstellen nach Anleitung des
Lebens. Wir wollen in der Darstellung die Atmosphäre der wirklichen Existenz
in Zeit und Raum empfinden, in welcher gerade diese bestimmte Individualität
so geworden, wie sie ist. Der GattungSmenschen nach Vorschrift und Recipe der
alten Aesthetik sind wir überdrüssig, und mögen lieber eine überderbe Wirklichkeit
ertragen, als ihre ästhetische Verflüchtigung in verfeinerte, nervenschwache Ideal-
gestalten.

Wenn die Urtheilskraft und das plastische Maß einer gesunden Natur bei
Auguste Crelinger die Romantik einer Kunstrichtung, welche ein dem Leben ent¬
fremdendes Ideal erstrebt, in den Schranken eines großen und edlen Styls zu
halten wußte, so unterstützte sie dabei die überzengnngsvolle Hoheit und Reinheit,
in der diese Richtung die Zeit ihrer Jugend beherrschte. Heute aber, da der
Enthusiasmus jener Kunstepoche verklungen ist, und höchstens in der Erinnerung
noch zuweilen erwacht, würde ans demselben Wege nur eine matte Copie geschaffen
werden. Im Kreise unsrer jüngern Schauspielerinnen existirt manches Beispiel
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/119>, abgerufen am 10.06.2024.