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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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von einem solchen verblaßten Idealismus, der sich aus dem Quell des Lebens
nicht zu erfrischen vermag, und endlich in kokette Verzerrung sich verirrt, oder in
A. G. Gefühlsblasirtheit untergeht.




Wochenschau.
Die kurhefsifchen Verordnungen vom 4., 7. und S8. Sep¬
tember Ein Beitrag zur rechtlichen Beurtheilung der
Zeitfragen. Von Heinrich Martin, Ober gerichtsrath in Kassel.
Marburg -1851.

Die Gerechtigkeit scheint es zu erheischen, daß die "Grenzboten", welche unlängst
von dem Grase'schen Buch "über den Versassungskampf in Kurhessen" Bericht er¬
stattet haben, auch von einer zur Vertheidigung der Hasscnpflug'sehen Ausnahmsverord-
nuugen erschienenen Schrift Notiz nehmen, zumal da dieselbe nicht nur den Eindruck
ehrlicher Ueberzeugung macht, sondern auch in würdigem Tone redet. Fügt sie auch
zu den bekannten Argumenten der Hassenpflug'schen Denkschrift nicht viel Neues hinzu,
so zeugt sie doch hinlänglich von des Verfassers juristisch-dialektischen Scharfsinn, der
freilich nicht selten einen zu advoeatischen Charakter trägt, was sich aus der frühern
langjährigen Advocaten-Laufbahn des Verfassers leicht erklärt.
'

Zur Kennzeichnung des Geistes und Tones der Schrift diene folgende Stelle aus
der Vorrede: "So gern wir anerkennen, daß unter denen, zu welchen wir uns im
Gegensatze sehen, eine beträchtliche Anzahl von Männern sich findet, welche der Weg
besonnener und pfüchtmäßiger Prüfung zu einem für sie selbst schmerzlichen Ziele
führte, und so sehr wir das Gericht mißbilligen, welches Etliche dadurch geübt haben,
daß sie den Widersprechenden ohne Weiteres eine sittliche Mitschuld un der Re¬
volution zuschrieben, eben so gewiß ist es, daß auch unter den Letzten nur Wenige sich
die unbefangene Gerechtigkeit bewahrt haben, welche den Dissens der Minderzahl als
das Ergebniß gewissenhafter Sachprüsung anerkannt, ^ab als den Ausdruck unerschütter¬
licher Ueberzeugung vom Rechte geachtet hätte. Es ist demnach sowol das Interesse
der Wahrheit überhaupt, welche durch das öffentliche Bekenntniß widerstreitender Ueber¬
zeugungen gefördert wird, als das Interesse der Minderheit insbesondere, durch Bezeu¬
gung ihres Standpunktes den Besonnenen unter ihren Mitbürgern gegenüber Gehör zu
erlangen, welches der nachfolgenden Erörterung zur Veranlassung und Rechtfertigung
dient."

Wir hoffen, daß der geehrte Verfasser diesen bescheidenen Zweck bei seinen Lesern
erreichen wird; wir wünschen aber, daß auch Herr Vilmar, der uns kürzlich im Volks-
freund mit einem so trefflichen Aufsatz "über Menschenkenntniß und Seelsorge" beschenkt
hat, endlich zu der Einsicht gelange, daß giftiger Hohn nur erbittert.

Als charakteristisch theilen wir ferner folgende Stelle mit (S. 38): " Wir selbst,
ovwol in keinem (!) Punkte die Verfassung für verletzt oder für unrichtig angewendet
haltend, sind nicht so verblendet, um zu verkennen, daß die Auslegung des §. 95 (aus
welchen die Ausnahmsgesetze begründet sind) wirklich zweifelhaft ist, und daß das
künftige Urtheil des Staatsgerichtshofes die Auffassung der Staatsregierung als der


von einem solchen verblaßten Idealismus, der sich aus dem Quell des Lebens
nicht zu erfrischen vermag, und endlich in kokette Verzerrung sich verirrt, oder in
A. G. Gefühlsblasirtheit untergeht.




Wochenschau.
Die kurhefsifchen Verordnungen vom 4., 7. und S8. Sep¬
tember Ein Beitrag zur rechtlichen Beurtheilung der
Zeitfragen. Von Heinrich Martin, Ober gerichtsrath in Kassel.
Marburg -1851.

Die Gerechtigkeit scheint es zu erheischen, daß die „Grenzboten", welche unlängst
von dem Grase'schen Buch „über den Versassungskampf in Kurhessen" Bericht er¬
stattet haben, auch von einer zur Vertheidigung der Hasscnpflug'sehen Ausnahmsverord-
nuugen erschienenen Schrift Notiz nehmen, zumal da dieselbe nicht nur den Eindruck
ehrlicher Ueberzeugung macht, sondern auch in würdigem Tone redet. Fügt sie auch
zu den bekannten Argumenten der Hassenpflug'schen Denkschrift nicht viel Neues hinzu,
so zeugt sie doch hinlänglich von des Verfassers juristisch-dialektischen Scharfsinn, der
freilich nicht selten einen zu advoeatischen Charakter trägt, was sich aus der frühern
langjährigen Advocaten-Laufbahn des Verfassers leicht erklärt.
'

Zur Kennzeichnung des Geistes und Tones der Schrift diene folgende Stelle aus
der Vorrede: „So gern wir anerkennen, daß unter denen, zu welchen wir uns im
Gegensatze sehen, eine beträchtliche Anzahl von Männern sich findet, welche der Weg
besonnener und pfüchtmäßiger Prüfung zu einem für sie selbst schmerzlichen Ziele
führte, und so sehr wir das Gericht mißbilligen, welches Etliche dadurch geübt haben,
daß sie den Widersprechenden ohne Weiteres eine sittliche Mitschuld un der Re¬
volution zuschrieben, eben so gewiß ist es, daß auch unter den Letzten nur Wenige sich
die unbefangene Gerechtigkeit bewahrt haben, welche den Dissens der Minderzahl als
das Ergebniß gewissenhafter Sachprüsung anerkannt, ^ab als den Ausdruck unerschütter¬
licher Ueberzeugung vom Rechte geachtet hätte. Es ist demnach sowol das Interesse
der Wahrheit überhaupt, welche durch das öffentliche Bekenntniß widerstreitender Ueber¬
zeugungen gefördert wird, als das Interesse der Minderheit insbesondere, durch Bezeu¬
gung ihres Standpunktes den Besonnenen unter ihren Mitbürgern gegenüber Gehör zu
erlangen, welches der nachfolgenden Erörterung zur Veranlassung und Rechtfertigung
dient."

Wir hoffen, daß der geehrte Verfasser diesen bescheidenen Zweck bei seinen Lesern
erreichen wird; wir wünschen aber, daß auch Herr Vilmar, der uns kürzlich im Volks-
freund mit einem so trefflichen Aufsatz „über Menschenkenntniß und Seelsorge" beschenkt
hat, endlich zu der Einsicht gelange, daß giftiger Hohn nur erbittert.

Als charakteristisch theilen wir ferner folgende Stelle mit (S. 38): „ Wir selbst,
ovwol in keinem (!) Punkte die Verfassung für verletzt oder für unrichtig angewendet
haltend, sind nicht so verblendet, um zu verkennen, daß die Auslegung des §. 95 (aus
welchen die Ausnahmsgesetze begründet sind) wirklich zweifelhaft ist, und daß das
künftige Urtheil des Staatsgerichtshofes die Auffassung der Staatsregierung als der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/120>, abgerufen am 29.05.2024.