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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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den soll, nämlich die Pedanterie, die trotz ihres komischen Anstriches etwas Rüh¬
rendes und Edles haben kann.

In der Form ist er ein bedeutender Fortschritt gegen die ältern Novellisten.
Er geht in der Gruppirung seiner Geschichte mit großer Gewissenhaftigkeit zu
Werke, und es fehlt ihm nur der künstlerische Jnstinct eines Walter Scott, um
seinen Intentionen vollständig gerecht zu werden; so aber wird die Kunst zuwei¬
len zur Künstelei, und es hat namentlich seine Methode, sowol in der Gegen¬
überstellung der Charaktere als der einzelnen Scenen, einen gleichsam architekto¬
nischen Parallelismus zu beobachten, etwas Einförmiges und Ermüdendes. --
In der Entwickelung seiner Charaktere, am ausführlichsten im Maltravers, kön¬
nen wir eine Reihe tiefsinniger Combinationen verfolgen, aber es fehlt im¬
mer das Letzte, was die Hauptsache ist, der Hauch des Genius, der uns
überzeugt.

Wenn ich anch in dieser ganzen Abhandlung fast nichts als Tadel über Bul-
wer ausgesprochen habe, so zeigt doch schon die Länge derselben, daß ich ihn für
eine bedeutende Erscheinung halte. Er ist neben Walter Scott und Dickens im¬
mer der hauptsächlichste Vertreter der neuern englischen Novellistik. Meine An¬
griffe gelten ebensowol dem gestimmten neuern deutschen Roman seit Wilhelm
Meister, der die Fehler Bulwers theilt, ohne seiue Vorzüge, nämlich ohne seine
strenge Gewissenhaftigkeit in der Beobachtung des Wirklichen und in der Kunst¬
form. Ich möchte gern unsern Poeten die allgemeine Regel einprägen, daß Niemand in
der Intention über das Maß seiner Kräfte gehen soll, wenn er nicht in der Ausfüh¬
rung hinter denselben zurückbleiben will. Wir siud seit Goethe und Schiller darum nicht
vorwärts gekommen, weil wir stets mit den ungeheuersten Intentionen anfingen und
diese so unbestimmt als möglich hielten, weil sie eine genaue Beleuchtung nicht
ertrugen. Wir haben uns mit den Problemen des Faust und des Wilhelm
Meister getragen, wir haben Himmel und Erde umspannen wollen, und sind darum
nicht im Staude gewesen, auch nur das bescheidenste kleinste Wohnhaus wieder¬
zugeben. Das Höchste hat uns nicht genügt, und darum haben wir das Kleinste
nicht erreicht. Wir haben die naive, unbefangene Arbeit den Dichtern vom dritten
und vierten Range überlassen; diejenigen Geister, die sich selbst für die begabte¬
ren hielten, haben sich mit unmöglichen Tendenzen "beladen und sind darum zu
Grunde gegangen. Nur wenn wir die Ueberspannung unsers Idealismus von
uns werfen, nur wenn wir uns bescheiden, können wir auf eine Wiederkehr der
I. S. Poesie hoffen.




den soll, nämlich die Pedanterie, die trotz ihres komischen Anstriches etwas Rüh¬
rendes und Edles haben kann.

In der Form ist er ein bedeutender Fortschritt gegen die ältern Novellisten.
Er geht in der Gruppirung seiner Geschichte mit großer Gewissenhaftigkeit zu
Werke, und es fehlt ihm nur der künstlerische Jnstinct eines Walter Scott, um
seinen Intentionen vollständig gerecht zu werden; so aber wird die Kunst zuwei¬
len zur Künstelei, und es hat namentlich seine Methode, sowol in der Gegen¬
überstellung der Charaktere als der einzelnen Scenen, einen gleichsam architekto¬
nischen Parallelismus zu beobachten, etwas Einförmiges und Ermüdendes. —
In der Entwickelung seiner Charaktere, am ausführlichsten im Maltravers, kön¬
nen wir eine Reihe tiefsinniger Combinationen verfolgen, aber es fehlt im¬
mer das Letzte, was die Hauptsache ist, der Hauch des Genius, der uns
überzeugt.

Wenn ich anch in dieser ganzen Abhandlung fast nichts als Tadel über Bul-
wer ausgesprochen habe, so zeigt doch schon die Länge derselben, daß ich ihn für
eine bedeutende Erscheinung halte. Er ist neben Walter Scott und Dickens im¬
mer der hauptsächlichste Vertreter der neuern englischen Novellistik. Meine An¬
griffe gelten ebensowol dem gestimmten neuern deutschen Roman seit Wilhelm
Meister, der die Fehler Bulwers theilt, ohne seiue Vorzüge, nämlich ohne seine
strenge Gewissenhaftigkeit in der Beobachtung des Wirklichen und in der Kunst¬
form. Ich möchte gern unsern Poeten die allgemeine Regel einprägen, daß Niemand in
der Intention über das Maß seiner Kräfte gehen soll, wenn er nicht in der Ausfüh¬
rung hinter denselben zurückbleiben will. Wir siud seit Goethe und Schiller darum nicht
vorwärts gekommen, weil wir stets mit den ungeheuersten Intentionen anfingen und
diese so unbestimmt als möglich hielten, weil sie eine genaue Beleuchtung nicht
ertrugen. Wir haben uns mit den Problemen des Faust und des Wilhelm
Meister getragen, wir haben Himmel und Erde umspannen wollen, und sind darum
nicht im Staude gewesen, auch nur das bescheidenste kleinste Wohnhaus wieder¬
zugeben. Das Höchste hat uns nicht genügt, und darum haben wir das Kleinste
nicht erreicht. Wir haben die naive, unbefangene Arbeit den Dichtern vom dritten
und vierten Range überlassen; diejenigen Geister, die sich selbst für die begabte¬
ren hielten, haben sich mit unmöglichen Tendenzen "beladen und sind darum zu
Grunde gegangen. Nur wenn wir die Ueberspannung unsers Idealismus von
uns werfen, nur wenn wir uns bescheiden, können wir auf eine Wiederkehr der
I. S. Poesie hoffen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/142>, abgerufen am 15.05.2024.