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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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den Nationalgarten und den Bureaux u. s. w. in ziemlich derben Späßen charak-
terisirt und durch einige eingestreute Chansons, durch ein paar unbedeutende Lie¬
besabenteuer und dergleichen gewürzt; oder es ist auch geradezu die Chauson, die
man als den eigentlichen Ausgangspunkt der Handlung betrachten muß, und an
welche sich die Scenen selbst wohl oder übel anreihen. Auf unserm deutschen
Theater haben wir von dem französischen Vaudeville keinen rechten Begriff. Wir
haben zwar Stücke mit eingestreuten Liedern, aber dieses rasche Uebergehen aus
dem Sprechen ins Singen und umgekehrt, auch mitten in der Verwickelung der
Intrigue, mitten in dem Drängen der Leidenschaft, ist u"s doch fremd geblieben.
In der Negel hat man daher bei einer Bearbeitung ins Deutsche den prosaischen
Dialog an die Stelle des Gesanges gesetzt. Ja diesen leichtern Vaudevilles läßt
sich Scribe mit Kotzebue vergleiche"; Beide sind gleich fruchtbar und erfinderisch,
aber Scribe hat doch einen großen Vorzug: er redet eine gebildete Sprache und
ist zu sehr Franzose, um bei irgend einem Argument in eine allzu weinerliche
Sentimentalität zu verfallen. Auch seiue rührenden Stosse werdeu mit einem
gewissen Anstand behandelt. Viele von diesen kleinen Possen sind für einen
bestimmten Darsteller oder eine Darstellerin geschrieben, und es kommt Scribe
gar nicht darauf an, den Somnambulismus oder körperliche Gebrechen, wie Blind¬
heit und Taubheit, zu zierlichen Tänzerpas zu verwerthen. Aber bei diesen leicht
hingeworfenen Skizzen läßt man sich das gefallen; es sind immer nur äußerliche
Abenteuer, an eine psychologische Benutzung dieser mysteriösen Zustände, welche
die eigentliche Romantik in dergleichen Fällen unerträglich macht, denkt er niemals.

Zwar hat er auch noch in den spätern Jahren eine Reihe derartiger Skizzen
geschrieben, im Allgemeinen aber tritt in den spätern Vaudevilles immer eine
mehr künstlerische Ausführung ein. Ich erwähne ein Paar seiner besten: I^orüss
orr 1a. rsparallon (1829); Oscar, 1<z man'1 ami lrompcz sa thans, und Ac>L, c>u
1'aiQ-me xrsts. -- Zuweilen wird eine sehr ernsthafte Geschichte mit Chansons
ausgestattet, was uus freilich sonderbar vorkommt; doch weiß er anch hier'
Grazie und Energie genug hereinzubringen, um nicht in die eigentliche spie߬
bürgerliche Misere zu verfallen. Zu den besten dieser Stücke gehören vno laues
(1830); IVlalvma, on Is marurM ä'inLluralloQ, los malkeurs ni'ni amen!,
Körrrsrrx (1833), und 1a, ?ami11o Kiciuebcmrss. Der Kuriosität wegen erwähne
ich noch den KoclolzM, eine Bearbeitung der Göthe'schen Geschwister (1823),
die übrigens in vieler Beziehung das Vorbild übertrifft.

Es versteht sich von selbst, daß in diesen Vaudevilles von einem höhern
künstlerischen Werth nicht die Rede sein kann. Es ist leichte Waare, auf ein
günstiges Publicum berechnet, zum Theil für einen einzelnen Virtuosen eingerichtet,
der in einem bestimmte" Genre sein Talent bewähren soll; an eine genauere
Charakterzeichnung ist nicht zu denken, da das Komische nur in den Situationen
liegt, und da bei dem epigrammatischen Zusammendrängen derselben selbst die Regel


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den Nationalgarten und den Bureaux u. s. w. in ziemlich derben Späßen charak-
terisirt und durch einige eingestreute Chansons, durch ein paar unbedeutende Lie¬
besabenteuer und dergleichen gewürzt; oder es ist auch geradezu die Chauson, die
man als den eigentlichen Ausgangspunkt der Handlung betrachten muß, und an
welche sich die Scenen selbst wohl oder übel anreihen. Auf unserm deutschen
Theater haben wir von dem französischen Vaudeville keinen rechten Begriff. Wir
haben zwar Stücke mit eingestreuten Liedern, aber dieses rasche Uebergehen aus
dem Sprechen ins Singen und umgekehrt, auch mitten in der Verwickelung der
Intrigue, mitten in dem Drängen der Leidenschaft, ist u»s doch fremd geblieben.
In der Negel hat man daher bei einer Bearbeitung ins Deutsche den prosaischen
Dialog an die Stelle des Gesanges gesetzt. Ja diesen leichtern Vaudevilles läßt
sich Scribe mit Kotzebue vergleiche»; Beide sind gleich fruchtbar und erfinderisch,
aber Scribe hat doch einen großen Vorzug: er redet eine gebildete Sprache und
ist zu sehr Franzose, um bei irgend einem Argument in eine allzu weinerliche
Sentimentalität zu verfallen. Auch seiue rührenden Stosse werdeu mit einem
gewissen Anstand behandelt. Viele von diesen kleinen Possen sind für einen
bestimmten Darsteller oder eine Darstellerin geschrieben, und es kommt Scribe
gar nicht darauf an, den Somnambulismus oder körperliche Gebrechen, wie Blind¬
heit und Taubheit, zu zierlichen Tänzerpas zu verwerthen. Aber bei diesen leicht
hingeworfenen Skizzen läßt man sich das gefallen; es sind immer nur äußerliche
Abenteuer, an eine psychologische Benutzung dieser mysteriösen Zustände, welche
die eigentliche Romantik in dergleichen Fällen unerträglich macht, denkt er niemals.

Zwar hat er auch noch in den spätern Jahren eine Reihe derartiger Skizzen
geschrieben, im Allgemeinen aber tritt in den spätern Vaudevilles immer eine
mehr künstlerische Ausführung ein. Ich erwähne ein Paar seiner besten: I^orüss
orr 1a. rsparallon (1829); Oscar, 1<z man'1 ami lrompcz sa thans, und Ac>L, c>u
1'aiQ-me xrsts. — Zuweilen wird eine sehr ernsthafte Geschichte mit Chansons
ausgestattet, was uus freilich sonderbar vorkommt; doch weiß er anch hier'
Grazie und Energie genug hereinzubringen, um nicht in die eigentliche spie߬
bürgerliche Misere zu verfallen. Zu den besten dieser Stücke gehören vno laues
(1830); IVlalvma, on Is marurM ä'inLluralloQ, los malkeurs ni'ni amen!,
Körrrsrrx (1833), und 1a, ?ami11o Kiciuebcmrss. Der Kuriosität wegen erwähne
ich noch den KoclolzM, eine Bearbeitung der Göthe'schen Geschwister (1823),
die übrigens in vieler Beziehung das Vorbild übertrifft.

Es versteht sich von selbst, daß in diesen Vaudevilles von einem höhern
künstlerischen Werth nicht die Rede sein kann. Es ist leichte Waare, auf ein
günstiges Publicum berechnet, zum Theil für einen einzelnen Virtuosen eingerichtet,
der in einem bestimmte» Genre sein Talent bewähren soll; an eine genauere
Charakterzeichnung ist nicht zu denken, da das Komische nur in den Situationen
liegt, und da bei dem epigrammatischen Zusammendrängen derselben selbst die Regel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/15>, abgerufen am 15.05.2024.