Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Wahrscheinlichkeit nicht immer beobachtet werden kann. Es verstattet keine rechte
Schule und ist doch einseitig. Aber man würde dem französischen Vaudeville im
höchsten Grade Unrecht thun, wenn man es nach den deutschen Bearbeitungen
beurtheilte. Das französische Vaudeville setzt ein seines, heiteres, gemessenes und
dabei doch pikantes Spiel im Einzelnen voraus; eine rasche, lebendige Sprache
und ein sehr energisches Zusammenspiel: Alles Dinge, wovon unsere Schauspieler
keinen Begriff haben. Wir haben wohl einzelne gute Charakterdarsteller, nament¬
lich im Komischen, aber diese verlangen eine gewisse Breite und Ausführlichkeit
der Zeichnung und tödten, wenn sie zur Geltung kommen, das ganze übrige
Stück. Sie verhalten sich zu den Franzosen ungefähr wie unsere Düsseldorfer
Genrebilder zu deu leicht und frech hingeworfenen Skizzen, die der Charivari
von den Pariser Grisetten, von den Dragonern und von dem von Kourgeois
gibt. Aber auch in dem Inhalt Scribe's liegt ein wesentlicher Vorzug. Es
waltet in demselben stets eine große Heiterkeit und ein sehr sicherer gesunder
Menschenverstand. Die Personen wissen stets, wie sie sich benehmen sollen. Die
französische Romantik hat zwar in den höhern Gebieten der Sittlichkeit die greu¬
lichsten Verwüstungen angerichtet, aber die Fundamente derselben hat sie nicht
berührt: die Sicherheit im Benehmen und das Selbstgefühl der Einzelnen.
Wenn die Franzosen überspannt werden, so übertreffen sie uns anch darin bei
weitem. Die Verrücktheiten Victor Hugo's, Lamartine's und Aehnlicher können
den feinsten deutschen Dichtungen an die Seite gestellt werden. Aber im ge¬
wöhnlichen Leben verhalten sie sich, wie gescheute und anständige Leute sich ver¬
halten sollen. Im gewöhnliche" Leben fällt es z. B. dem Ehemann nicht ein,
sich aus Rücksichten höherer Sittlichkeit zu erschießen, um den Liebesgcfühlen sei¬
ner Frau freien Spielraum zu lassen, sondern er duellirt sich entweder mit seinem
Gegner, oder er bringt, wenn er eine gesetztere Natur ist und wenn das Ver¬
hältniß nicht zu sehr verwickelt ist, dasselbe durch Verstand, Charakterfestigkeit,
Witz und gute Laune in Ordnung; und ist er von der Art, daß man ihm sein
Schicksal als angeboren zuschreiben muß, so wird die ganze Geschichte so komisch
gehalten, daß man sich an die Strenge des sittlichen Gebots gar nicht mehr erin¬
nert, ebensowenig wie man an die Mährchen aus Tausend und einer Nacht
den Maßstab des preußischen Landrechtö oder des kategorischen Imperativs an¬
legen darf.

Scribe ist der Dichter der Bourgeoisie und daher ein entschiedener Feind der
Romantik. Er läßt sich zwar selten in directe Polemik ein, aber er freut sich von
Zeit zu Zeit, mit gelinder Ironie auf irgend eine von den Ausschweifungen der
ritterlich christlichen Dichter hinzudeuten. Er hat z. B. durch eines seiner Lust¬
spiele (1a prolLFöc! s-uis 1<z savoir) jenes Motto für die romantische Schule in
der Poesie und Malerei: Nichts ist häßlich als das Schöne, und nichts ist schön
als das Häßliche, populär gemacht. Dieser Umstand unterscheidet ihn vorzugsweise


der Wahrscheinlichkeit nicht immer beobachtet werden kann. Es verstattet keine rechte
Schule und ist doch einseitig. Aber man würde dem französischen Vaudeville im
höchsten Grade Unrecht thun, wenn man es nach den deutschen Bearbeitungen
beurtheilte. Das französische Vaudeville setzt ein seines, heiteres, gemessenes und
dabei doch pikantes Spiel im Einzelnen voraus; eine rasche, lebendige Sprache
und ein sehr energisches Zusammenspiel: Alles Dinge, wovon unsere Schauspieler
keinen Begriff haben. Wir haben wohl einzelne gute Charakterdarsteller, nament¬
lich im Komischen, aber diese verlangen eine gewisse Breite und Ausführlichkeit
der Zeichnung und tödten, wenn sie zur Geltung kommen, das ganze übrige
Stück. Sie verhalten sich zu den Franzosen ungefähr wie unsere Düsseldorfer
Genrebilder zu deu leicht und frech hingeworfenen Skizzen, die der Charivari
von den Pariser Grisetten, von den Dragonern und von dem von Kourgeois
gibt. Aber auch in dem Inhalt Scribe's liegt ein wesentlicher Vorzug. Es
waltet in demselben stets eine große Heiterkeit und ein sehr sicherer gesunder
Menschenverstand. Die Personen wissen stets, wie sie sich benehmen sollen. Die
französische Romantik hat zwar in den höhern Gebieten der Sittlichkeit die greu¬
lichsten Verwüstungen angerichtet, aber die Fundamente derselben hat sie nicht
berührt: die Sicherheit im Benehmen und das Selbstgefühl der Einzelnen.
Wenn die Franzosen überspannt werden, so übertreffen sie uns anch darin bei
weitem. Die Verrücktheiten Victor Hugo's, Lamartine's und Aehnlicher können
den feinsten deutschen Dichtungen an die Seite gestellt werden. Aber im ge¬
wöhnlichen Leben verhalten sie sich, wie gescheute und anständige Leute sich ver¬
halten sollen. Im gewöhnliche» Leben fällt es z. B. dem Ehemann nicht ein,
sich aus Rücksichten höherer Sittlichkeit zu erschießen, um den Liebesgcfühlen sei¬
ner Frau freien Spielraum zu lassen, sondern er duellirt sich entweder mit seinem
Gegner, oder er bringt, wenn er eine gesetztere Natur ist und wenn das Ver¬
hältniß nicht zu sehr verwickelt ist, dasselbe durch Verstand, Charakterfestigkeit,
Witz und gute Laune in Ordnung; und ist er von der Art, daß man ihm sein
Schicksal als angeboren zuschreiben muß, so wird die ganze Geschichte so komisch
gehalten, daß man sich an die Strenge des sittlichen Gebots gar nicht mehr erin¬
nert, ebensowenig wie man an die Mährchen aus Tausend und einer Nacht
den Maßstab des preußischen Landrechtö oder des kategorischen Imperativs an¬
legen darf.

Scribe ist der Dichter der Bourgeoisie und daher ein entschiedener Feind der
Romantik. Er läßt sich zwar selten in directe Polemik ein, aber er freut sich von
Zeit zu Zeit, mit gelinder Ironie auf irgend eine von den Ausschweifungen der
ritterlich christlichen Dichter hinzudeuten. Er hat z. B. durch eines seiner Lust¬
spiele (1a prolLFöc! s-uis 1<z savoir) jenes Motto für die romantische Schule in
der Poesie und Malerei: Nichts ist häßlich als das Schöne, und nichts ist schön
als das Häßliche, populär gemacht. Dieser Umstand unterscheidet ihn vorzugsweise


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91209"/>
          <p xml:id="ID_11" prev="#ID_10"> der Wahrscheinlichkeit nicht immer beobachtet werden kann. Es verstattet keine rechte<lb/>
Schule und ist doch einseitig. Aber man würde dem französischen Vaudeville im<lb/>
höchsten Grade Unrecht thun, wenn man es nach den deutschen Bearbeitungen<lb/>
beurtheilte. Das französische Vaudeville setzt ein seines, heiteres, gemessenes und<lb/>
dabei doch pikantes Spiel im Einzelnen voraus; eine rasche, lebendige Sprache<lb/>
und ein sehr energisches Zusammenspiel: Alles Dinge, wovon unsere Schauspieler<lb/>
keinen Begriff haben. Wir haben wohl einzelne gute Charakterdarsteller, nament¬<lb/>
lich im Komischen, aber diese verlangen eine gewisse Breite und Ausführlichkeit<lb/>
der Zeichnung und tödten, wenn sie zur Geltung kommen, das ganze übrige<lb/>
Stück. Sie verhalten sich zu den Franzosen ungefähr wie unsere Düsseldorfer<lb/>
Genrebilder zu deu leicht und frech hingeworfenen Skizzen, die der Charivari<lb/>
von den Pariser Grisetten, von den Dragonern und von dem von Kourgeois<lb/>
gibt. Aber auch in dem Inhalt Scribe's liegt ein wesentlicher Vorzug. Es<lb/>
waltet in demselben stets eine große Heiterkeit und ein sehr sicherer gesunder<lb/>
Menschenverstand. Die Personen wissen stets, wie sie sich benehmen sollen. Die<lb/>
französische Romantik hat zwar in den höhern Gebieten der Sittlichkeit die greu¬<lb/>
lichsten Verwüstungen angerichtet, aber die Fundamente derselben hat sie nicht<lb/>
berührt: die Sicherheit im Benehmen und das Selbstgefühl der Einzelnen.<lb/>
Wenn die Franzosen überspannt werden, so übertreffen sie uns anch darin bei<lb/>
weitem. Die Verrücktheiten Victor Hugo's, Lamartine's und Aehnlicher können<lb/>
den feinsten deutschen Dichtungen an die Seite gestellt werden. Aber im ge¬<lb/>
wöhnlichen Leben verhalten sie sich, wie gescheute und anständige Leute sich ver¬<lb/>
halten sollen. Im gewöhnliche» Leben fällt es z. B. dem Ehemann nicht ein,<lb/>
sich aus Rücksichten höherer Sittlichkeit zu erschießen, um den Liebesgcfühlen sei¬<lb/>
ner Frau freien Spielraum zu lassen, sondern er duellirt sich entweder mit seinem<lb/>
Gegner, oder er bringt, wenn er eine gesetztere Natur ist und wenn das Ver¬<lb/>
hältniß nicht zu sehr verwickelt ist, dasselbe durch Verstand, Charakterfestigkeit,<lb/>
Witz und gute Laune in Ordnung; und ist er von der Art, daß man ihm sein<lb/>
Schicksal als angeboren zuschreiben muß, so wird die ganze Geschichte so komisch<lb/>
gehalten, daß man sich an die Strenge des sittlichen Gebots gar nicht mehr erin¬<lb/>
nert, ebensowenig wie man an die Mährchen aus Tausend und einer Nacht<lb/>
den Maßstab des preußischen Landrechtö oder des kategorischen Imperativs an¬<lb/>
legen darf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_12" next="#ID_13"> Scribe ist der Dichter der Bourgeoisie und daher ein entschiedener Feind der<lb/>
Romantik. Er läßt sich zwar selten in directe Polemik ein, aber er freut sich von<lb/>
Zeit zu Zeit, mit gelinder Ironie auf irgend eine von den Ausschweifungen der<lb/>
ritterlich christlichen Dichter hinzudeuten. Er hat z. B. durch eines seiner Lust¬<lb/>
spiele (1a prolLFöc! s-uis 1&lt;z savoir) jenes Motto für die romantische Schule in<lb/>
der Poesie und Malerei: Nichts ist häßlich als das Schöne, und nichts ist schön<lb/>
als das Häßliche, populär gemacht. Dieser Umstand unterscheidet ihn vorzugsweise</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0016] der Wahrscheinlichkeit nicht immer beobachtet werden kann. Es verstattet keine rechte Schule und ist doch einseitig. Aber man würde dem französischen Vaudeville im höchsten Grade Unrecht thun, wenn man es nach den deutschen Bearbeitungen beurtheilte. Das französische Vaudeville setzt ein seines, heiteres, gemessenes und dabei doch pikantes Spiel im Einzelnen voraus; eine rasche, lebendige Sprache und ein sehr energisches Zusammenspiel: Alles Dinge, wovon unsere Schauspieler keinen Begriff haben. Wir haben wohl einzelne gute Charakterdarsteller, nament¬ lich im Komischen, aber diese verlangen eine gewisse Breite und Ausführlichkeit der Zeichnung und tödten, wenn sie zur Geltung kommen, das ganze übrige Stück. Sie verhalten sich zu den Franzosen ungefähr wie unsere Düsseldorfer Genrebilder zu deu leicht und frech hingeworfenen Skizzen, die der Charivari von den Pariser Grisetten, von den Dragonern und von dem von Kourgeois gibt. Aber auch in dem Inhalt Scribe's liegt ein wesentlicher Vorzug. Es waltet in demselben stets eine große Heiterkeit und ein sehr sicherer gesunder Menschenverstand. Die Personen wissen stets, wie sie sich benehmen sollen. Die französische Romantik hat zwar in den höhern Gebieten der Sittlichkeit die greu¬ lichsten Verwüstungen angerichtet, aber die Fundamente derselben hat sie nicht berührt: die Sicherheit im Benehmen und das Selbstgefühl der Einzelnen. Wenn die Franzosen überspannt werden, so übertreffen sie uns anch darin bei weitem. Die Verrücktheiten Victor Hugo's, Lamartine's und Aehnlicher können den feinsten deutschen Dichtungen an die Seite gestellt werden. Aber im ge¬ wöhnlichen Leben verhalten sie sich, wie gescheute und anständige Leute sich ver¬ halten sollen. Im gewöhnliche» Leben fällt es z. B. dem Ehemann nicht ein, sich aus Rücksichten höherer Sittlichkeit zu erschießen, um den Liebesgcfühlen sei¬ ner Frau freien Spielraum zu lassen, sondern er duellirt sich entweder mit seinem Gegner, oder er bringt, wenn er eine gesetztere Natur ist und wenn das Ver¬ hältniß nicht zu sehr verwickelt ist, dasselbe durch Verstand, Charakterfestigkeit, Witz und gute Laune in Ordnung; und ist er von der Art, daß man ihm sein Schicksal als angeboren zuschreiben muß, so wird die ganze Geschichte so komisch gehalten, daß man sich an die Strenge des sittlichen Gebots gar nicht mehr erin¬ nert, ebensowenig wie man an die Mährchen aus Tausend und einer Nacht den Maßstab des preußischen Landrechtö oder des kategorischen Imperativs an¬ legen darf. Scribe ist der Dichter der Bourgeoisie und daher ein entschiedener Feind der Romantik. Er läßt sich zwar selten in directe Polemik ein, aber er freut sich von Zeit zu Zeit, mit gelinder Ironie auf irgend eine von den Ausschweifungen der ritterlich christlichen Dichter hinzudeuten. Er hat z. B. durch eines seiner Lust¬ spiele (1a prolLFöc! s-uis 1<z savoir) jenes Motto für die romantische Schule in der Poesie und Malerei: Nichts ist häßlich als das Schöne, und nichts ist schön als das Häßliche, populär gemacht. Dieser Umstand unterscheidet ihn vorzugsweise

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/16
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/16>, abgerufen am 15.05.2024.