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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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überhaupt alle Ideen zuwider, denn alles Denken und alles Streben ist unbequem,
stört den Seelenfrieden und ist ein Verstoß gegen das conservative Princip.

Zwar hat uns auch die Reaction so wie die Revolution von Zeit zu Zeit
die Spitznamen Idealisten und Doctrinairs zugeworfen, allein das ist nur so zu
verstehen, wie nach den Novembertagen in Wien auch der reactionairste Beamte
einen Menschen, den er nicht leiden konnte, mit dem Schimpfnamen eines schwarz¬
gelben belegte. Solche Begriffe verlieren ihre Beziehung, sobald sie als Symbole
gebraucht werden. Eigentlich wissen es unsre Gegner recht gut, daß sie eben
solche Idealisten und Doctrinaire sind, als wir. Es kann überhaupt keine po¬
litische Partei gedacht werden ohne Beimischung vou Idealismus und Doctrin;
denn wenn sie Etwas erstreben will, so muß sie sich ein Bild gemacht haben von
dem, was sie erstrebt, und das ist Idealismus; und wenn sie consequent ver¬
fahren will, so muß sie sich allgemeine Regeln und Grundsätze des politischen
Verhaltens bilden, und das ist Doctrin. Wenn aber mit beiden Worten nichts
Andres bezeichnet werden soll, als der einseitige, d. h. der von der An¬
schauung des Wirklichen getrennte Idealismus, und die einseitige Doctrin, die
Doctrin, welche, um mich des technischen Ausdrucks zu bedienen, den Verhält¬
nissen keine Rechnung trägt, so wird dieser Norwurf von jeder der politischen
Parteien jeder der andern gemacht werden, und von jeder mit einem gewissen
Recht, denn Einseitigkeit ist der nothwendige Makel jeder endlichen Bestrebung,
die sich nicht in endlose Reflexionen verlieren will. Die Reaction behauptet,
die ungeheure Mehrzahl des Volkes sei royalistisch und kirchlich gefinnnt, und
nur einige wenige Böswillige wollten das Gegentheil. Die Revolution behaup¬
tet, die große Masse des Volkes sei für Freiheit und Gleichheit, und nur einige
Böswillige wollten das Gegentheil. Beide handeln in ihrem Glauben, und
wurden überhaupt nicht handeln, wenn sie von demselben nicht so weit durch¬
drungen wären, daß sie alle und jede dagegen sprechenden Umstände als un¬
wesentlich beseitigten. Bei uns ist es genau derselbe Fall; auch unser Glaube
ist'exclusiv und kann nicht alle Momente in Rechnung bringen, welche die so¬
genannte Wirklichkeit darbietet. Die endliche Probe kann natürlich nur der Er¬
folg machen.

Anders ist es mit der gedankenlosen Masse, die außerhalb aller Parteiungen
steht, die allen Parteien den zähen, aber unfruchtbaren Widerstand der Gedanken¬
losigkeit entgegensetzt. Es ist natürlich, daß diese Masse, wenn sie zur Besinnung
kommt, am heftigsten gegen diejenige Partei auftritt, von der sie glauben sollte,
sie stände ihr am nächsten. Bei der Aristokratie und bei der Demagogie gesteht
sie von vorn herein zu, daß sie dieselben überhaupt uicht begreift, und wenn sie
daher der unmittelbaren Furcht ledig ist, so läßt sie sie als Kuriositäten gelten;
wenn^ste aber bei der sogenannten Mittelpartei, der sie früher in dem Wahn, sie
sei nur überhaupt gegen die Extreme, den unbedingtesten Beifall zujauchzte,


überhaupt alle Ideen zuwider, denn alles Denken und alles Streben ist unbequem,
stört den Seelenfrieden und ist ein Verstoß gegen das conservative Princip.

Zwar hat uns auch die Reaction so wie die Revolution von Zeit zu Zeit
die Spitznamen Idealisten und Doctrinairs zugeworfen, allein das ist nur so zu
verstehen, wie nach den Novembertagen in Wien auch der reactionairste Beamte
einen Menschen, den er nicht leiden konnte, mit dem Schimpfnamen eines schwarz¬
gelben belegte. Solche Begriffe verlieren ihre Beziehung, sobald sie als Symbole
gebraucht werden. Eigentlich wissen es unsre Gegner recht gut, daß sie eben
solche Idealisten und Doctrinaire sind, als wir. Es kann überhaupt keine po¬
litische Partei gedacht werden ohne Beimischung vou Idealismus und Doctrin;
denn wenn sie Etwas erstreben will, so muß sie sich ein Bild gemacht haben von
dem, was sie erstrebt, und das ist Idealismus; und wenn sie consequent ver¬
fahren will, so muß sie sich allgemeine Regeln und Grundsätze des politischen
Verhaltens bilden, und das ist Doctrin. Wenn aber mit beiden Worten nichts
Andres bezeichnet werden soll, als der einseitige, d. h. der von der An¬
schauung des Wirklichen getrennte Idealismus, und die einseitige Doctrin, die
Doctrin, welche, um mich des technischen Ausdrucks zu bedienen, den Verhält¬
nissen keine Rechnung trägt, so wird dieser Norwurf von jeder der politischen
Parteien jeder der andern gemacht werden, und von jeder mit einem gewissen
Recht, denn Einseitigkeit ist der nothwendige Makel jeder endlichen Bestrebung,
die sich nicht in endlose Reflexionen verlieren will. Die Reaction behauptet,
die ungeheure Mehrzahl des Volkes sei royalistisch und kirchlich gefinnnt, und
nur einige wenige Böswillige wollten das Gegentheil. Die Revolution behaup¬
tet, die große Masse des Volkes sei für Freiheit und Gleichheit, und nur einige
Böswillige wollten das Gegentheil. Beide handeln in ihrem Glauben, und
wurden überhaupt nicht handeln, wenn sie von demselben nicht so weit durch¬
drungen wären, daß sie alle und jede dagegen sprechenden Umstände als un¬
wesentlich beseitigten. Bei uns ist es genau derselbe Fall; auch unser Glaube
ist'exclusiv und kann nicht alle Momente in Rechnung bringen, welche die so¬
genannte Wirklichkeit darbietet. Die endliche Probe kann natürlich nur der Er¬
folg machen.

Anders ist es mit der gedankenlosen Masse, die außerhalb aller Parteiungen
steht, die allen Parteien den zähen, aber unfruchtbaren Widerstand der Gedanken¬
losigkeit entgegensetzt. Es ist natürlich, daß diese Masse, wenn sie zur Besinnung
kommt, am heftigsten gegen diejenige Partei auftritt, von der sie glauben sollte,
sie stände ihr am nächsten. Bei der Aristokratie und bei der Demagogie gesteht
sie von vorn herein zu, daß sie dieselben überhaupt uicht begreift, und wenn sie
daher der unmittelbaren Furcht ledig ist, so läßt sie sie als Kuriositäten gelten;
wenn^ste aber bei der sogenannten Mittelpartei, der sie früher in dem Wahn, sie
sei nur überhaupt gegen die Extreme, den unbedingtesten Beifall zujauchzte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/158>, abgerufen am 14.05.2024.