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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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schen bekannter geworden sind, als die der zweiten Classe, an poetischem und mo¬
ralischem Werth tief unter die letztere zu stellen. Die Art, wie Scribe mit der
Geschichte umgeht, ist zu frech. Zwar haben die Tragödiendichter seiner Zeit eine
noch größere Willkür ausgeübt, und man wird mehr durch dieselbe beleidigt, weil
man es mit ernsten Geschichten zu thun zu haben glaubt, aber die Freiheit des
Lustspiels hat denn doch auch seine Grenzen. Scribe'ö Lustspiele, in welche Zeit
er dieselben anch verlegen mag, spielen stets nnter den Voraussetzungen der Juli¬
dynastie. Die Anlage der Charaktere und die Situation steht in der Regel in
directem Widerspruch gegen die sittliche Bildung der Zeit, die er schildern will.
Außerdem ist das Ganze schablonenhaft angelegt, und man wird seine sämmtlichen
Personen auf eine kleine Zahl von Charaktermasken zurückführen können. Ueberall
findet sich der geschickte Diplomat, der als Maschinist der Handlung dient: Nautzau,
Boliugbroke, Mont, Margarethe vouNavarra; überall der junge Liebhaber, der,
ohne es zu wissen und zu wollen, durch unsichtbare Beschützer zu großem Glück
berufen wird u. f. w. Daher sind auch in diesen größern Stücken die Charaktere
sehr leicht angelegt. Das Komische liegt lediglich in den Situationen und In¬
triguen, und wir bewegen uns in einem beständigen Spiel des Witzes, einer be¬
ständigen Spannung der Neugierde. Scribe hat darin die größte Verwandtschaft
mit Calderon; doch fällt der ungesunde Blüthenreichthum der Sprache weg, sowie
auch die verstockten sittlichen Begriffe, die aus Calderon's Figuren bloße Automaten
machen. Scribe'ö Figuren bewegen sich alle mit einer gewissen Freiheit und
Grazie. Außerdem zwingt ihn schon die Prosa, in der er schreibt, dazu, in seinen
Verwickelungen deutlicher und präciser zu sein, und von der Lebhaftigkeit und
Klarheit seines Dialogs ist bei Calderon keine Spur. Wenn wir überhaupt von
jenen Vorwürfen, die wir mit Recht gegen seine novellistische Verdrehung der
Geschichte erheben "rußten, abstrahiren, so müssen wir das Geschick und die Sicherheit
in der Technik im höchsten Grade anerkennen. Für die deutschen Schauspieler
waren diese historischen Lustspiele eine gute Schule, wenn hier, wo der Grund
verdorben ist, noch an die Möglichkeit einer Schule gedacht werden könnte. Außer¬
dem wird ihre Aufführung im Deutschen noch dadurch erschwert, daß durch eine
Menge von Anspielungen die französische Nationalität gekitzelt wird, und daß man
diese Anspielungen doch nicht ausmerzen kann, weil Alles, was im Stücke vor¬
kommt, a"es wesentlich zu demselben gehört. Darum sind diese größer" Stücke
mit wenigen Ausnahmen von Scribe allein gearbeitet, während die Vaudevilles
zum großen Theil von zwei oder drei Verfassern herrühren. Der eine hat einen
glücklichen Einfall in Beziehung auf die Situation, der andere führt ihn aus, der
dritte bringt noch einige Witze und Chansons hinein.

Dumas hat unter seinen Stücken einige,, die in Kühnheit der Erfindung
mit den eben genannten wetteifern können, namentlich Niräsmolsells as Lslls-
Isls und los 0LrQ0ise11s8 av Ki, C^r, aber diese spielen nicht unter der July-


schen bekannter geworden sind, als die der zweiten Classe, an poetischem und mo¬
ralischem Werth tief unter die letztere zu stellen. Die Art, wie Scribe mit der
Geschichte umgeht, ist zu frech. Zwar haben die Tragödiendichter seiner Zeit eine
noch größere Willkür ausgeübt, und man wird mehr durch dieselbe beleidigt, weil
man es mit ernsten Geschichten zu thun zu haben glaubt, aber die Freiheit des
Lustspiels hat denn doch auch seine Grenzen. Scribe'ö Lustspiele, in welche Zeit
er dieselben anch verlegen mag, spielen stets nnter den Voraussetzungen der Juli¬
dynastie. Die Anlage der Charaktere und die Situation steht in der Regel in
directem Widerspruch gegen die sittliche Bildung der Zeit, die er schildern will.
Außerdem ist das Ganze schablonenhaft angelegt, und man wird seine sämmtlichen
Personen auf eine kleine Zahl von Charaktermasken zurückführen können. Ueberall
findet sich der geschickte Diplomat, der als Maschinist der Handlung dient: Nautzau,
Boliugbroke, Mont, Margarethe vouNavarra; überall der junge Liebhaber, der,
ohne es zu wissen und zu wollen, durch unsichtbare Beschützer zu großem Glück
berufen wird u. f. w. Daher sind auch in diesen größern Stücken die Charaktere
sehr leicht angelegt. Das Komische liegt lediglich in den Situationen und In¬
triguen, und wir bewegen uns in einem beständigen Spiel des Witzes, einer be¬
ständigen Spannung der Neugierde. Scribe hat darin die größte Verwandtschaft
mit Calderon; doch fällt der ungesunde Blüthenreichthum der Sprache weg, sowie
auch die verstockten sittlichen Begriffe, die aus Calderon's Figuren bloße Automaten
machen. Scribe'ö Figuren bewegen sich alle mit einer gewissen Freiheit und
Grazie. Außerdem zwingt ihn schon die Prosa, in der er schreibt, dazu, in seinen
Verwickelungen deutlicher und präciser zu sein, und von der Lebhaftigkeit und
Klarheit seines Dialogs ist bei Calderon keine Spur. Wenn wir überhaupt von
jenen Vorwürfen, die wir mit Recht gegen seine novellistische Verdrehung der
Geschichte erheben »rußten, abstrahiren, so müssen wir das Geschick und die Sicherheit
in der Technik im höchsten Grade anerkennen. Für die deutschen Schauspieler
waren diese historischen Lustspiele eine gute Schule, wenn hier, wo der Grund
verdorben ist, noch an die Möglichkeit einer Schule gedacht werden könnte. Außer¬
dem wird ihre Aufführung im Deutschen noch dadurch erschwert, daß durch eine
Menge von Anspielungen die französische Nationalität gekitzelt wird, und daß man
diese Anspielungen doch nicht ausmerzen kann, weil Alles, was im Stücke vor¬
kommt, a»es wesentlich zu demselben gehört. Darum sind diese größer» Stücke
mit wenigen Ausnahmen von Scribe allein gearbeitet, während die Vaudevilles
zum großen Theil von zwei oder drei Verfassern herrühren. Der eine hat einen
glücklichen Einfall in Beziehung auf die Situation, der andere führt ihn aus, der
dritte bringt noch einige Witze und Chansons hinein.

Dumas hat unter seinen Stücken einige,, die in Kühnheit der Erfindung
mit den eben genannten wetteifern können, namentlich Niräsmolsells as Lslls-
Isls und los 0LrQ0ise11s8 av Ki, C^r, aber diese spielen nicht unter der July-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/18>, abgerufen am 15.05.2024.