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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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dynastie, die doch der Liederlichkeit wenigstens ein gewisses Maß setzt, sondern
unter der Regentschaft, und ergehen sich nach Art der celtischen Phantasie ebenso
in den wildesten Abenteuerlichkeiten, wie sie an Frivolität ihres Gleichen suchen.
In der letzten Zeit hat Dumas in seinem sogenannten historischen Theater ein
neues Genre angebaut, den dialogisirten historischen Roman, der niemals ein Ende
nimmt, weil einige zwanzig Hauptpersonen erst getödtet oder verheirathet sein
müssen, ehe der Knoten der Handlung sich lost. Dabei Hort natürlich jedes künst¬
lerische Gesetz auf, obgleich ein gewisses Leben in den Erfindungen und eine,
wenn auch lediglich materielle Spannung noch immer darin vorhanden ist, z. B.
in dem Stück: 1s oksvalisr as Naisoa Koü^s. -- Ich bemerke nebenbei, daß
Scribe in einzelnen seiner Vaudevilles, die auch an das Historische streifen, die
Freiheiten seiner größern Stücke noch überboten hat, z. B. im eimll welches
die Geschichte der Kaiserin Katharine U. behandelt. Eines derselben, la Im salique,
behandelt sogar eine dänische Königin, von der noch keine Chronik etwas gehört
hat. Neuerdings ist das historische Lustspiel ganz im Scribeschcn Styl sehr viel¬
seitig angebaut worden. Einzelne dieser Stücke, z.'B. la, roins als ssi-iC ans,
welches ebenso ^gut spor Sende sein könnte, als von Bayard, sind anch in
Deutschland bekannt geworden. -- Wir gehen jetzt auf die zweite Classe der
Scribeschen Lustspiele über. , - -

Es sind folgende: l<z wariaxe ä'argsnl, 1827, 1a eamaraclsris, 1837, 1a
oalomme, 1840, la passion seerste, 1840, ans mains, 1841, und 1"z MK, 1848.
Es mögen deren noch mehrere vorhanden sein. All' diese Stücke, sür deren
bestes wir uns odcunö halten, gehören zu den vorzüglichsten, die irgend eine.
Zeit oder ein Volk auszuweisen hat. Sie vermeiden die Einseitigkeiten sowohl
der englischen als der spanischen Komödie. Die erste beruht ans der Anhäufung
einer Reihe origineller Charaktere, die nur durch einen sehr losen Faden mit ein¬
ander verknüpft find; von einer Oekonomie der Handlung, der ersten Grundbe¬
dingung eines musterhaften Lustspiels, ist bei den Engländern nirgend die Rede.
Die Komik der einzelnen Figuren geht mit ihnen durch, und sie vergessen darüber,
was sie eigentlich darstellen wollen. Auch Shakespeare ist von diesem Vorwurf nicht
freizusprechen. Die Spanier dagegen kennen nur den Mechanismus äußerlicher
Combination, uur das wunderliche Spiel des Zufalls; ihre Charaktere, die Ka¬
valiere und Damen auf der einen, die Graziosos und Grisetten auf der andern
Seite, sehen sich einander so ähnlich, daß man jeden Einzelnen beliebig in jedes
andere Stück versetzen, daß man Don Diego und Don Juan, Donna Ines und
Donna Lconor ohne alle Unbequemlichkeit mit einander vertauschen kann. Bei
Scribe sällt das Hauptinteresse zwar auch wie billig in die Intrigue und die Ver¬
wickelungen des Zufalls, aber seine Charaktcrmasken, obgleich sie nichts geben,
als was zur Handlung nothwendig ist, sind doch nicht blos Variationen über ein
bestimmtes Charakterthema, sondern sehr sorgfältig individualisirt und durch Mischung


dynastie, die doch der Liederlichkeit wenigstens ein gewisses Maß setzt, sondern
unter der Regentschaft, und ergehen sich nach Art der celtischen Phantasie ebenso
in den wildesten Abenteuerlichkeiten, wie sie an Frivolität ihres Gleichen suchen.
In der letzten Zeit hat Dumas in seinem sogenannten historischen Theater ein
neues Genre angebaut, den dialogisirten historischen Roman, der niemals ein Ende
nimmt, weil einige zwanzig Hauptpersonen erst getödtet oder verheirathet sein
müssen, ehe der Knoten der Handlung sich lost. Dabei Hort natürlich jedes künst¬
lerische Gesetz auf, obgleich ein gewisses Leben in den Erfindungen und eine,
wenn auch lediglich materielle Spannung noch immer darin vorhanden ist, z. B.
in dem Stück: 1s oksvalisr as Naisoa Koü^s. — Ich bemerke nebenbei, daß
Scribe in einzelnen seiner Vaudevilles, die auch an das Historische streifen, die
Freiheiten seiner größern Stücke noch überboten hat, z. B. im eimll welches
die Geschichte der Kaiserin Katharine U. behandelt. Eines derselben, la Im salique,
behandelt sogar eine dänische Königin, von der noch keine Chronik etwas gehört
hat. Neuerdings ist das historische Lustspiel ganz im Scribeschcn Styl sehr viel¬
seitig angebaut worden. Einzelne dieser Stücke, z.'B. la, roins als ssi-iC ans,
welches ebenso ^gut spor Sende sein könnte, als von Bayard, sind anch in
Deutschland bekannt geworden. — Wir gehen jetzt auf die zweite Classe der
Scribeschen Lustspiele über. , - -

Es sind folgende: l<z wariaxe ä'argsnl, 1827, 1a eamaraclsris, 1837, 1a
oalomme, 1840, la passion seerste, 1840, ans mains, 1841, und 1«z MK, 1848.
Es mögen deren noch mehrere vorhanden sein. All' diese Stücke, sür deren
bestes wir uns odcunö halten, gehören zu den vorzüglichsten, die irgend eine.
Zeit oder ein Volk auszuweisen hat. Sie vermeiden die Einseitigkeiten sowohl
der englischen als der spanischen Komödie. Die erste beruht ans der Anhäufung
einer Reihe origineller Charaktere, die nur durch einen sehr losen Faden mit ein¬
ander verknüpft find; von einer Oekonomie der Handlung, der ersten Grundbe¬
dingung eines musterhaften Lustspiels, ist bei den Engländern nirgend die Rede.
Die Komik der einzelnen Figuren geht mit ihnen durch, und sie vergessen darüber,
was sie eigentlich darstellen wollen. Auch Shakespeare ist von diesem Vorwurf nicht
freizusprechen. Die Spanier dagegen kennen nur den Mechanismus äußerlicher
Combination, uur das wunderliche Spiel des Zufalls; ihre Charaktere, die Ka¬
valiere und Damen auf der einen, die Graziosos und Grisetten auf der andern
Seite, sehen sich einander so ähnlich, daß man jeden Einzelnen beliebig in jedes
andere Stück versetzen, daß man Don Diego und Don Juan, Donna Ines und
Donna Lconor ohne alle Unbequemlichkeit mit einander vertauschen kann. Bei
Scribe sällt das Hauptinteresse zwar auch wie billig in die Intrigue und die Ver¬
wickelungen des Zufalls, aber seine Charaktcrmasken, obgleich sie nichts geben,
als was zur Handlung nothwendig ist, sind doch nicht blos Variationen über ein
bestimmtes Charakterthema, sondern sehr sorgfältig individualisirt und durch Mischung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/19>, abgerufen am 15.05.2024.