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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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digste" Repräsentanten des Chorgesanges gesichert. Dies läßt sich von einem
hohem Standpunkte aus nur beklagen. Es beginnt dadurch ein Bruch in unsern
musikalischen Verhältnissen, der für eine noch lange Zukunft hin fortbestehen kann.
Die beiden untrennbaren Factoren jeder achtungswerthen Kunstleistung: Ernst der
Richtung und Präcision der Ausführung, beginnen damit sich von einander zu
trennen. Mit Mendelssohn'scher Musik, mit vierstimmigen Liedern und ähnlichen
Bagatellen, wozu sich allenfalls einmal etwas Händel und Haydn gesellt, wird
die Aufgabe eines musikalischen Instituts, das künstlerische Bedeutung beansprucht,
nicht erschöpft; eben so wenig wird ein wahrhaft künstlerisches Institut gegen das
Aeußere gleichgiltig sein. Stern ist seiner Persönlichkeit nach ein Repräsentant
des Salons, die Singakademie leidet an physischer und geistiger Altersschwäche.
In der letzten Zeit ist wiederholt von einer Regeneration der Singakademie die
Rede gewesen, und die Ausführungen dieses Winters haben nur zu deutlich gezeigt,
wie nothwendig eine solche ist. Am Gelungensten waren noch die Aufführungen
des Messias, des Paulus und der Schöpfung; um so weniger konnte aber die
Bach'sche Passton befriedigen. Dies merkwürdige Denkmal pietistisch-protestanti-
scher Gesinnung, das im Jahre 1829 von Mendelssohn zum ersten Mal wieder
vor die Oeffentlichkeit gebracht wurde, ist seit einigen Jahren zu der Ehre gelangt,
alljährlich ausgeführt zu werden. Alle Welt, die musikalische und die unmusikali¬
sche, die bigotte und die atheistische, beginnt nach gerade dafür zu schwärmen.
Man scheint das Bedürfniß eines Cultus zu haben; nachdem man lange genug
für Mendelssohn geschwärmt hatte, wurde man dessen überdrüssig, man wollte
etwas Neues, und man fängt an den altmodischen Bach zu verehre". Bei allem
Respect vor der tiefen Innigkeit, vor dem inhaltsvollen Ernst, vor der wunder¬
baren Erfindungskraft und der meisterhaften Technik dieses Mannes, -- auch
dieser Geschmack ist nur eine von den Formen, in denen sich der romantische
Dämon unsers Jahrhunderts offenbart. Was Wunderbares ist darin, daß die
romantische Neigung zum Gekünstelten und Geschraubten an einen Mann sich
anlehnt, der fast Alle darin übertroffen hat? daß sie an einer Ueberschweng-
lichkeit des Ausdruckes Gefallen findet, die das eine Grundgesetz der Kunst, die
maßvolle Schönheit, unbekümmert bei Seite liegen läßt? Was ist Wunderbares
darin, daß ein Romantiker für den musikalischen Ausdruck der hochgespanntesten
Religiosität sich begeistert, obschon sein eigenes Herz über jedes religiöse Gefühl längst
hinaus ist? Der Bach-Cultus hat mit dem Meyerbeer-Cultus einen sehr wesentlichen
Berührungspunkt. Es ist eine gewiße Abgestumpftheit, die sich an Meyerbeer und die
sich an Bach wendet. Nur der Unterschied ist der, daß Meyerbeer's Effecte ans dem
Zustand der Abgestumpftheit selbst hervorgehen, während Bach in natürlicher Kraft,
weil er am Anfang einer neuen Kunstperiode stand, zu starken Ausdrucksmitteln kam.
Es werden also stets die Besten sein, die sich in Bach versenken. Aber die Er¬
fahrung bestätigt es, daß mit aufrichtigem Sinn nur Solche zu Bach gelange",


digste» Repräsentanten des Chorgesanges gesichert. Dies läßt sich von einem
hohem Standpunkte aus nur beklagen. Es beginnt dadurch ein Bruch in unsern
musikalischen Verhältnissen, der für eine noch lange Zukunft hin fortbestehen kann.
Die beiden untrennbaren Factoren jeder achtungswerthen Kunstleistung: Ernst der
Richtung und Präcision der Ausführung, beginnen damit sich von einander zu
trennen. Mit Mendelssohn'scher Musik, mit vierstimmigen Liedern und ähnlichen
Bagatellen, wozu sich allenfalls einmal etwas Händel und Haydn gesellt, wird
die Aufgabe eines musikalischen Instituts, das künstlerische Bedeutung beansprucht,
nicht erschöpft; eben so wenig wird ein wahrhaft künstlerisches Institut gegen das
Aeußere gleichgiltig sein. Stern ist seiner Persönlichkeit nach ein Repräsentant
des Salons, die Singakademie leidet an physischer und geistiger Altersschwäche.
In der letzten Zeit ist wiederholt von einer Regeneration der Singakademie die
Rede gewesen, und die Ausführungen dieses Winters haben nur zu deutlich gezeigt,
wie nothwendig eine solche ist. Am Gelungensten waren noch die Aufführungen
des Messias, des Paulus und der Schöpfung; um so weniger konnte aber die
Bach'sche Passton befriedigen. Dies merkwürdige Denkmal pietistisch-protestanti-
scher Gesinnung, das im Jahre 1829 von Mendelssohn zum ersten Mal wieder
vor die Oeffentlichkeit gebracht wurde, ist seit einigen Jahren zu der Ehre gelangt,
alljährlich ausgeführt zu werden. Alle Welt, die musikalische und die unmusikali¬
sche, die bigotte und die atheistische, beginnt nach gerade dafür zu schwärmen.
Man scheint das Bedürfniß eines Cultus zu haben; nachdem man lange genug
für Mendelssohn geschwärmt hatte, wurde man dessen überdrüssig, man wollte
etwas Neues, und man fängt an den altmodischen Bach zu verehre». Bei allem
Respect vor der tiefen Innigkeit, vor dem inhaltsvollen Ernst, vor der wunder¬
baren Erfindungskraft und der meisterhaften Technik dieses Mannes, — auch
dieser Geschmack ist nur eine von den Formen, in denen sich der romantische
Dämon unsers Jahrhunderts offenbart. Was Wunderbares ist darin, daß die
romantische Neigung zum Gekünstelten und Geschraubten an einen Mann sich
anlehnt, der fast Alle darin übertroffen hat? daß sie an einer Ueberschweng-
lichkeit des Ausdruckes Gefallen findet, die das eine Grundgesetz der Kunst, die
maßvolle Schönheit, unbekümmert bei Seite liegen läßt? Was ist Wunderbares
darin, daß ein Romantiker für den musikalischen Ausdruck der hochgespanntesten
Religiosität sich begeistert, obschon sein eigenes Herz über jedes religiöse Gefühl längst
hinaus ist? Der Bach-Cultus hat mit dem Meyerbeer-Cultus einen sehr wesentlichen
Berührungspunkt. Es ist eine gewiße Abgestumpftheit, die sich an Meyerbeer und die
sich an Bach wendet. Nur der Unterschied ist der, daß Meyerbeer's Effecte ans dem
Zustand der Abgestumpftheit selbst hervorgehen, während Bach in natürlicher Kraft,
weil er am Anfang einer neuen Kunstperiode stand, zu starken Ausdrucksmitteln kam.
Es werden also stets die Besten sein, die sich in Bach versenken. Aber die Er¬
fahrung bestätigt es, daß mit aufrichtigem Sinn nur Solche zu Bach gelange»,


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[0185] digste» Repräsentanten des Chorgesanges gesichert. Dies läßt sich von einem hohem Standpunkte aus nur beklagen. Es beginnt dadurch ein Bruch in unsern musikalischen Verhältnissen, der für eine noch lange Zukunft hin fortbestehen kann. Die beiden untrennbaren Factoren jeder achtungswerthen Kunstleistung: Ernst der Richtung und Präcision der Ausführung, beginnen damit sich von einander zu trennen. Mit Mendelssohn'scher Musik, mit vierstimmigen Liedern und ähnlichen Bagatellen, wozu sich allenfalls einmal etwas Händel und Haydn gesellt, wird die Aufgabe eines musikalischen Instituts, das künstlerische Bedeutung beansprucht, nicht erschöpft; eben so wenig wird ein wahrhaft künstlerisches Institut gegen das Aeußere gleichgiltig sein. Stern ist seiner Persönlichkeit nach ein Repräsentant des Salons, die Singakademie leidet an physischer und geistiger Altersschwäche. In der letzten Zeit ist wiederholt von einer Regeneration der Singakademie die Rede gewesen, und die Ausführungen dieses Winters haben nur zu deutlich gezeigt, wie nothwendig eine solche ist. Am Gelungensten waren noch die Aufführungen des Messias, des Paulus und der Schöpfung; um so weniger konnte aber die Bach'sche Passton befriedigen. Dies merkwürdige Denkmal pietistisch-protestanti- scher Gesinnung, das im Jahre 1829 von Mendelssohn zum ersten Mal wieder vor die Oeffentlichkeit gebracht wurde, ist seit einigen Jahren zu der Ehre gelangt, alljährlich ausgeführt zu werden. Alle Welt, die musikalische und die unmusikali¬ sche, die bigotte und die atheistische, beginnt nach gerade dafür zu schwärmen. Man scheint das Bedürfniß eines Cultus zu haben; nachdem man lange genug für Mendelssohn geschwärmt hatte, wurde man dessen überdrüssig, man wollte etwas Neues, und man fängt an den altmodischen Bach zu verehre». Bei allem Respect vor der tiefen Innigkeit, vor dem inhaltsvollen Ernst, vor der wunder¬ baren Erfindungskraft und der meisterhaften Technik dieses Mannes, — auch dieser Geschmack ist nur eine von den Formen, in denen sich der romantische Dämon unsers Jahrhunderts offenbart. Was Wunderbares ist darin, daß die romantische Neigung zum Gekünstelten und Geschraubten an einen Mann sich anlehnt, der fast Alle darin übertroffen hat? daß sie an einer Ueberschweng- lichkeit des Ausdruckes Gefallen findet, die das eine Grundgesetz der Kunst, die maßvolle Schönheit, unbekümmert bei Seite liegen läßt? Was ist Wunderbares darin, daß ein Romantiker für den musikalischen Ausdruck der hochgespanntesten Religiosität sich begeistert, obschon sein eigenes Herz über jedes religiöse Gefühl längst hinaus ist? Der Bach-Cultus hat mit dem Meyerbeer-Cultus einen sehr wesentlichen Berührungspunkt. Es ist eine gewiße Abgestumpftheit, die sich an Meyerbeer und die sich an Bach wendet. Nur der Unterschied ist der, daß Meyerbeer's Effecte ans dem Zustand der Abgestumpftheit selbst hervorgehen, während Bach in natürlicher Kraft, weil er am Anfang einer neuen Kunstperiode stand, zu starken Ausdrucksmitteln kam. Es werden also stets die Besten sein, die sich in Bach versenken. Aber die Er¬ fahrung bestätigt es, daß mit aufrichtigem Sinn nur Solche zu Bach gelange»,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/185>, abgerufen am 28.05.2024.