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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Die hervortretendsten Repräsentanten des Chorgesangs und der Kirchenmusik
sind die Singakademie, der Stern'sche Verein und der Domchor. Der Sing¬
akademie muß man nachrühmen, daß sie an dem Princip, das Instituten dieser
Art zu Grunde liegen muß, mit Strenge festhält. Ein Gesangverein kann sich
zu höherer künstlerischer Bedeutung überhaupt nur dadurch erheben, daß er eine
bestimmte Richtung verfolgt; begnügt er sich damit, nach augenblicklichem Belieben
und nach Rücksichten des blos gesellschaftlichen Vergnügens bald Dies bald Jenes
auszuführen, so vertritt er eben Nichts, und hat keine bestimmte künstlerische Stel¬
lung. Die Singakademie beschränkt sich aus das Gebiet der Kirchenmusik, umfaßt
dies aber in seiner ganzen Ausdehnung und mit ziemlich gleicher Berücksichtigung
verschiedener Zeiten und Richtungen. Sie hat mit großer Liberalität alljährlich
Werke lebender Componisten zur Aufführung gebracht; indem sie Schumann's
"Paradies und die Perl" aufführte, bewies sie sich selbst weniger spröde, als die
Königl. Kapelle, die noch keine von Schumann's Symphonien in ihr Repertoir
aufgenommen hat; Mendelsohn's Oratorien und Hiller'S "Zerstörung Jerusalem's"
sind mehrfach, und außerdem Oratorien von Löwe, Spvhr, Marknll, Marx,
Küster, Naumann und Hopfe aufgeführt worden. Aber eben so wenig hat die
Singakademie zu Gunsten des Neuen ans die classische Musik verzichtet; mit
ruhiger Sicherheit bewegt sie sich zwischen diesen beiden Extremen. Leider nun
wird die Ausführung von den Leitern dieses Instituts etwas vernachlässigt. Theils
werden die Tempi sehr hänfig zu langsam genommen, theils wird aus die Aus¬
merzung der Fehler und Nachlässigkeiten zu wenig Energie verwandt. sowol
dieser Umstand als der bei vielen Dilettanten herrschende Mangel an Ernst hat
den Stern'schen Gesangverein zu großem Ausehen gebracht. Stern gründete ihn
im Jahre 1848. Die Zahl seiner Mitglieder hat sich seitdem so vermehrt, daß
sie jetzt nicht mehr weit von der der Singakademie absteht. In diesem Winter
trat Stern, der bis dahin sich mit einer untergeordneten Stellung begnügt und
nur kleinere Aufführungen vor einem meist eingeladenen Publicum veranstaltet
hatte, zum ersten Mal als Rival der Singakademie auf. Mit Unterstützung der
Königl. Capelle und des jetzt nach Köln berufenen trefflichen Pianisten Eduard
Frank gab er ein Concert im größeren Styl, das in der That von der Vortreff¬
lichkeit der Ausführung, die unter seiner Leitung erreicht worden, Zeugniß ablegte.
Das Hauptwerk, das zur Aufführung kam, war die Walpurgisnacht von Men¬
delssohn, eine Composttion, die in verkleinerten Maßstabe alle Elemente der
Mendelssohn'schen Richtung in sich vereinigt: das Liederartige, das Dämonische
und Elfenartige, und das Kirchliche. Die Walpurgisnacht war bis jetzt nur ein¬
mal in Berlin mit großem Orchester gehört worden, und zwar in einem Augen¬
blick, in dem die schwersten politischen Entscheidungen auf der Spitze des Schwer¬
tes standen; sie hatte darum für uns das Interesse der Neuheit. Der Erfolg
des Concertes war ein entschiedener, der Ruf des Stern'schen Vereins als our-


Die hervortretendsten Repräsentanten des Chorgesangs und der Kirchenmusik
sind die Singakademie, der Stern'sche Verein und der Domchor. Der Sing¬
akademie muß man nachrühmen, daß sie an dem Princip, das Instituten dieser
Art zu Grunde liegen muß, mit Strenge festhält. Ein Gesangverein kann sich
zu höherer künstlerischer Bedeutung überhaupt nur dadurch erheben, daß er eine
bestimmte Richtung verfolgt; begnügt er sich damit, nach augenblicklichem Belieben
und nach Rücksichten des blos gesellschaftlichen Vergnügens bald Dies bald Jenes
auszuführen, so vertritt er eben Nichts, und hat keine bestimmte künstlerische Stel¬
lung. Die Singakademie beschränkt sich aus das Gebiet der Kirchenmusik, umfaßt
dies aber in seiner ganzen Ausdehnung und mit ziemlich gleicher Berücksichtigung
verschiedener Zeiten und Richtungen. Sie hat mit großer Liberalität alljährlich
Werke lebender Componisten zur Aufführung gebracht; indem sie Schumann's
„Paradies und die Perl" aufführte, bewies sie sich selbst weniger spröde, als die
Königl. Kapelle, die noch keine von Schumann's Symphonien in ihr Repertoir
aufgenommen hat; Mendelsohn's Oratorien und Hiller'S „Zerstörung Jerusalem's"
sind mehrfach, und außerdem Oratorien von Löwe, Spvhr, Marknll, Marx,
Küster, Naumann und Hopfe aufgeführt worden. Aber eben so wenig hat die
Singakademie zu Gunsten des Neuen ans die classische Musik verzichtet; mit
ruhiger Sicherheit bewegt sie sich zwischen diesen beiden Extremen. Leider nun
wird die Ausführung von den Leitern dieses Instituts etwas vernachlässigt. Theils
werden die Tempi sehr hänfig zu langsam genommen, theils wird aus die Aus¬
merzung der Fehler und Nachlässigkeiten zu wenig Energie verwandt. sowol
dieser Umstand als der bei vielen Dilettanten herrschende Mangel an Ernst hat
den Stern'schen Gesangverein zu großem Ausehen gebracht. Stern gründete ihn
im Jahre 1848. Die Zahl seiner Mitglieder hat sich seitdem so vermehrt, daß
sie jetzt nicht mehr weit von der der Singakademie absteht. In diesem Winter
trat Stern, der bis dahin sich mit einer untergeordneten Stellung begnügt und
nur kleinere Aufführungen vor einem meist eingeladenen Publicum veranstaltet
hatte, zum ersten Mal als Rival der Singakademie auf. Mit Unterstützung der
Königl. Capelle und des jetzt nach Köln berufenen trefflichen Pianisten Eduard
Frank gab er ein Concert im größeren Styl, das in der That von der Vortreff¬
lichkeit der Ausführung, die unter seiner Leitung erreicht worden, Zeugniß ablegte.
Das Hauptwerk, das zur Aufführung kam, war die Walpurgisnacht von Men¬
delssohn, eine Composttion, die in verkleinerten Maßstabe alle Elemente der
Mendelssohn'schen Richtung in sich vereinigt: das Liederartige, das Dämonische
und Elfenartige, und das Kirchliche. Die Walpurgisnacht war bis jetzt nur ein¬
mal in Berlin mit großem Orchester gehört worden, und zwar in einem Augen¬
blick, in dem die schwersten politischen Entscheidungen auf der Spitze des Schwer¬
tes standen; sie hatte darum für uns das Interesse der Neuheit. Der Erfolg
des Concertes war ein entschiedener, der Ruf des Stern'schen Vereins als our-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/184>, abgerufen am 09.06.2024.