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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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diesen Mangel des Interesses im letzten Act durch irgend eine Spannung ersetzen.
Er hat es dadurch versucht, daß er Mortimer zum Schluß des vierten Acts
nicht sterben, sondern sich mit weiteren Plänen zur Befreiung Mariens beschäfti¬
gen läßt, so daß in der Vorstellung der betheiligten Personen, namentlich Leice-
ster's, wenigstens die Möglichkeit eines andern Ausgangs übrig bleibt. Dadurch
erreicht er zugleich, daß die raffinirte Niederträchtigkeit in dem Charakter dieses
Lords, die zwar nicht dem französischen Charakter, wohl aber den französischen
Ideen über einen Theaterhelden vollkommen unverständlich ist, einigermaßen ge-
mildert wird. Ich darf wohl nicht erst hinzusetzen, daß alle diese Veränderungen
Entstellungen sind. Schiller's Dramen, die für unser Theater an dem Uebelstande
einer zu großen Länge leiden, müssen doch mit der größten Vorsicht behandelt
werden, denn die Anordnung seiner Scenen, die Gruppirung seiner Charaktere
und die Motivirung der Handlung ist mit so viel Ueberlegung und dramatischem
Verstand ausgeführt, daß jeder Eingriff die bedenklichsten Folgen auf die dra¬
matische Wirkung ausüben muß.

Wohl aber ist die darstellende Künstlerin nicht nur berechtigt, sondern auch
verpflichtet, im Sinn des Dichters diejenigen Momente, welche sür die dramatische
Entwickelung nothwendig sind, wenn er sie auch nur leise andeutet, schärfer her¬
vorzuheben. Ich habe schon in meinen Bemerkungen zur Jungfrau von Or¬
leans angedeutet, daß die weiblichen Figuren unseres Dichters in der Regel zu
weich genommen werden. Während des Stücks ist Maria Stuart allerdings in
der Lage, daß sie fortwährend nur Unrecht erleidet; aber diese Passivität, wenn
sie einseitig festgehalten wird, würde weder ein richtiges Bild von ihrem Charak¬
ter geben, noch den Forderungen genügen, die wir an die Bewegung des Dra¬
ma's stellen müssen. Maria Stuart hat einmal in ihrer Jugend in der Gluth
der Leidenschaft ein furchtbares Verbrechen begangen, und wenn sie auch in der
Einsamkeit ihres Kerkers Muße genug gehabt hat, darüber nachzudenken und das
Gefühl der Reue in sich zu nähren, so darf doch diese Vergangenheit nicht als
bloße historische Reminiscenz in das Stück hinüberspielen, sondern wir müssen in
ihrer Erscheinung begreifen, daß ihr Wesen etwas Dämonisches hat, welches
ebenso die andern Menschen mit unwiderstehlicher Gewalt fesselt, als es sie selbst
unter Umständen über alle Schranken der Vernunft und des Gesetzes hinausreißen
kann. Wir müssen es begreifen, daß dieses Weib, von der Macht der Leiden¬
schaft erfaßt, einen Mord hat begehen können.. Sie soll allerdings unsere Theil¬
nahme und unser Mitleid erregen, aber dieses Mitleid soll von einem geheimen
Schauder begleitet sein.

Da nun die Unterredung mit der Elisabeth die einzige Scene ist, in der ihr
inneres Wesen zum Vorschein kommt, so muß dieser Ausbruch mit aller Gewalt
einer ursprünglich wilden Natur erfolgen. Die Schauspielerin muß den Dichter


diesen Mangel des Interesses im letzten Act durch irgend eine Spannung ersetzen.
Er hat es dadurch versucht, daß er Mortimer zum Schluß des vierten Acts
nicht sterben, sondern sich mit weiteren Plänen zur Befreiung Mariens beschäfti¬
gen läßt, so daß in der Vorstellung der betheiligten Personen, namentlich Leice-
ster's, wenigstens die Möglichkeit eines andern Ausgangs übrig bleibt. Dadurch
erreicht er zugleich, daß die raffinirte Niederträchtigkeit in dem Charakter dieses
Lords, die zwar nicht dem französischen Charakter, wohl aber den französischen
Ideen über einen Theaterhelden vollkommen unverständlich ist, einigermaßen ge-
mildert wird. Ich darf wohl nicht erst hinzusetzen, daß alle diese Veränderungen
Entstellungen sind. Schiller's Dramen, die für unser Theater an dem Uebelstande
einer zu großen Länge leiden, müssen doch mit der größten Vorsicht behandelt
werden, denn die Anordnung seiner Scenen, die Gruppirung seiner Charaktere
und die Motivirung der Handlung ist mit so viel Ueberlegung und dramatischem
Verstand ausgeführt, daß jeder Eingriff die bedenklichsten Folgen auf die dra¬
matische Wirkung ausüben muß.

Wohl aber ist die darstellende Künstlerin nicht nur berechtigt, sondern auch
verpflichtet, im Sinn des Dichters diejenigen Momente, welche sür die dramatische
Entwickelung nothwendig sind, wenn er sie auch nur leise andeutet, schärfer her¬
vorzuheben. Ich habe schon in meinen Bemerkungen zur Jungfrau von Or¬
leans angedeutet, daß die weiblichen Figuren unseres Dichters in der Regel zu
weich genommen werden. Während des Stücks ist Maria Stuart allerdings in
der Lage, daß sie fortwährend nur Unrecht erleidet; aber diese Passivität, wenn
sie einseitig festgehalten wird, würde weder ein richtiges Bild von ihrem Charak¬
ter geben, noch den Forderungen genügen, die wir an die Bewegung des Dra¬
ma's stellen müssen. Maria Stuart hat einmal in ihrer Jugend in der Gluth
der Leidenschaft ein furchtbares Verbrechen begangen, und wenn sie auch in der
Einsamkeit ihres Kerkers Muße genug gehabt hat, darüber nachzudenken und das
Gefühl der Reue in sich zu nähren, so darf doch diese Vergangenheit nicht als
bloße historische Reminiscenz in das Stück hinüberspielen, sondern wir müssen in
ihrer Erscheinung begreifen, daß ihr Wesen etwas Dämonisches hat, welches
ebenso die andern Menschen mit unwiderstehlicher Gewalt fesselt, als es sie selbst
unter Umständen über alle Schranken der Vernunft und des Gesetzes hinausreißen
kann. Wir müssen es begreifen, daß dieses Weib, von der Macht der Leiden¬
schaft erfaßt, einen Mord hat begehen können.. Sie soll allerdings unsere Theil¬
nahme und unser Mitleid erregen, aber dieses Mitleid soll von einem geheimen
Schauder begleitet sein.

Da nun die Unterredung mit der Elisabeth die einzige Scene ist, in der ihr
inneres Wesen zum Vorschein kommt, so muß dieser Ausbruch mit aller Gewalt
einer ursprünglich wilden Natur erfolgen. Die Schauspielerin muß den Dichter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/25>, abgerufen am 15.05.2024.