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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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ist die Schule Victor Hugo's in die wüsteste Rohheit ausgeartet, welche ihren
eigenen Urheber unangenehm berühren muß. Es liegt diese Rohheit theils in der
geschmacklosen Vermischung aller möglichen Tonarten und Stimmungen, die man
angeblich aus Shakespeare gelernt haben will, und die sich in der Französischen
Sprache noch viel widerwärtiger ausnimmt, als in irgend einer andern, theils in
der Neigung zu Abenteuerlichkeiten und Paradoxien, welche die mangelnde Poesie
ersetzen sollen, theils in der knechtischen Hingebung der Dichter an das Virtuosen-
thum der Schauspieler. Alle diese Verirrungen sprechen sich in der kürzlich von
uns schon angeregten Valeria aus, welche eigentlich nnr geschrieben ist, um
der Rachel Gelegenheit zu geben, zu gleicher Zeit als komische wie als tragische
Schauspielerin zu glänzen. Wenn Scribe dergleichen unternimmt, so weiß er
doch immer einigen Geschmack und Zusammenhang hineinzubringen; bei den Voll¬
blutromantikern aber haben wir nur die grellste" Contraste mit der traurigsten
Trivialität zusammengepaart und das Ganze mit einem massenhaften Costum über¬
kleidet; Tyrannen und Buhleriuuen, die sich wie die Wahnsinnigen geberden,
nud doch aus keiner solidern Basis ihre Charakterprobleme aufbauen, als ans
den schlechten Reminiscenzen aus dem Pariser Jonrnalistenleben. Daß eine
historische Paradoxie nicht sehlen darf, versteht sich vou selbst. So wie Victor
Hugo die Marion Delorme und ähnliche verkannte Personen rehabilitirte, so soll
Plötzlich Messaline als eine tugendhafte und ungerecht verleumdete Heldin erschei¬
nen, während doch die Geschichte selbst, wenn man einmal dem Drama die Schil¬
derung von Ungeheuern gestattet, einen viel tragischen Gegenstand geboten hätte.
Noch sonderbarer aber macht sich ein solches Unternehmen, wenn man es nicht
mit einer historischen Figur, sondern mit der Fiction eines Romans zu thun hat.
So haben in einem sünfactigen Vaudeville, welches neuerdings im (^mriase
ausgeführt' wurde, die Herren Marc Fournier und Barriere versucht, Manon
Lescaut, die liederliche, aber liebenswürdige Heldin des bekannten Romans des
Abbe Prevost, zu einer moralischen Person umzudichten und dadurch die Pointe
dieser seltsamen Ersurdnng vollständig umzukehren, und so hat auf einem andern
Vorstadttheater unser Teufelsdichter Hoffmann mit mehrern seiner wunderlichsten
Erfindungen, dem Rath Krespel, der schwindsüchtiger Antonie mit ihrer Geige
und der Automatin Olympia herhalten müssen, durch schauerliche und überschweng¬
liche Geschichten, die in sein eigenes Leben verlegt werden, die Pariser Popnlace
zu ergötzen. Das Stück, welches den Titel führt: l^es contes ä<z llossmarm,
und von Jules Barbier und Michel Carre verfertigt ist, zeichnet sich noch dadurch
ans, daß es zum ersten Mal den Versuch macht, den prosaischen Dialog neben
den Alexandrinern hergehen zu lassen. In allen diesen Stücken herrscht eine
Bildersprache, die mit ihrer Ungenauigkeit und ihrem gezwungenen Wesen an
unsre romantische Schule erinnert, und die Verbindung der einzelnen Scenen ist
i> lose, phantastisch und überschwenglich, daß man niemals recht weiß, ob man


ist die Schule Victor Hugo's in die wüsteste Rohheit ausgeartet, welche ihren
eigenen Urheber unangenehm berühren muß. Es liegt diese Rohheit theils in der
geschmacklosen Vermischung aller möglichen Tonarten und Stimmungen, die man
angeblich aus Shakespeare gelernt haben will, und die sich in der Französischen
Sprache noch viel widerwärtiger ausnimmt, als in irgend einer andern, theils in
der Neigung zu Abenteuerlichkeiten und Paradoxien, welche die mangelnde Poesie
ersetzen sollen, theils in der knechtischen Hingebung der Dichter an das Virtuosen-
thum der Schauspieler. Alle diese Verirrungen sprechen sich in der kürzlich von
uns schon angeregten Valeria aus, welche eigentlich nnr geschrieben ist, um
der Rachel Gelegenheit zu geben, zu gleicher Zeit als komische wie als tragische
Schauspielerin zu glänzen. Wenn Scribe dergleichen unternimmt, so weiß er
doch immer einigen Geschmack und Zusammenhang hineinzubringen; bei den Voll¬
blutromantikern aber haben wir nur die grellste» Contraste mit der traurigsten
Trivialität zusammengepaart und das Ganze mit einem massenhaften Costum über¬
kleidet; Tyrannen und Buhleriuuen, die sich wie die Wahnsinnigen geberden,
nud doch aus keiner solidern Basis ihre Charakterprobleme aufbauen, als ans
den schlechten Reminiscenzen aus dem Pariser Jonrnalistenleben. Daß eine
historische Paradoxie nicht sehlen darf, versteht sich vou selbst. So wie Victor
Hugo die Marion Delorme und ähnliche verkannte Personen rehabilitirte, so soll
Plötzlich Messaline als eine tugendhafte und ungerecht verleumdete Heldin erschei¬
nen, während doch die Geschichte selbst, wenn man einmal dem Drama die Schil¬
derung von Ungeheuern gestattet, einen viel tragischen Gegenstand geboten hätte.
Noch sonderbarer aber macht sich ein solches Unternehmen, wenn man es nicht
mit einer historischen Figur, sondern mit der Fiction eines Romans zu thun hat.
So haben in einem sünfactigen Vaudeville, welches neuerdings im (^mriase
ausgeführt' wurde, die Herren Marc Fournier und Barriere versucht, Manon
Lescaut, die liederliche, aber liebenswürdige Heldin des bekannten Romans des
Abbe Prevost, zu einer moralischen Person umzudichten und dadurch die Pointe
dieser seltsamen Ersurdnng vollständig umzukehren, und so hat auf einem andern
Vorstadttheater unser Teufelsdichter Hoffmann mit mehrern seiner wunderlichsten
Erfindungen, dem Rath Krespel, der schwindsüchtiger Antonie mit ihrer Geige
und der Automatin Olympia herhalten müssen, durch schauerliche und überschweng¬
liche Geschichten, die in sein eigenes Leben verlegt werden, die Pariser Popnlace
zu ergötzen. Das Stück, welches den Titel führt: l^es contes ä<z llossmarm,
und von Jules Barbier und Michel Carre verfertigt ist, zeichnet sich noch dadurch
ans, daß es zum ersten Mal den Versuch macht, den prosaischen Dialog neben
den Alexandrinern hergehen zu lassen. In allen diesen Stücken herrscht eine
Bildersprache, die mit ihrer Ungenauigkeit und ihrem gezwungenen Wesen an
unsre romantische Schule erinnert, und die Verbindung der einzelnen Scenen ist
i> lose, phantastisch und überschwenglich, daß man niemals recht weiß, ob man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/283>, abgerufen am 29.05.2024.