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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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übrigen Welt vctroyirt; uns geht Beides ab, wir sind weder sicher in uns selbst,
noch human und empfänglich für fremde Naturen. ES dürfte aber doch eine zu
gewagte Behauptung sein, wenn man diesen Mangel ans der Erbsünde des Bater
Adam oder aus irgend einem unbekannten Verbrechen unsers Ahnherrn Teut her¬
leiten wollte; er wurzelt vielmehr zuletzt in dem Grundübel unsrer Zustände, in
dem Mangel eines großen Ganzen, als dessen lebendiges Glied wir uns fühlen
könnten. Da aber die Zeit, wo wir uns eines freien und einigen Deutschland
rühmen könnten, noch ziemlich fern liegen mag, so wäre es doch gerathen, mit der
Verbesserung unsrer Sitten im Einzelnen nicht ans diese allgemeine Umgestaltung
zu warten, und dazu kann Niemand mehr beitragen, als unsre Lustspieldichter.
Wenn sie dabei den Einfluß der Französischen Bildung uicht vou sich abweise",
so ist das kein Attentat gegen die Integrität unsres Deutschthums. Wir haben
ja erst im vorigen Jahrhundert ans den Lateinischen Dichtern gelernt, uns Deutsch
auszudrücken, und die Philologen, so wie die durch die classische Philosophie in-
spirirter lyrischen Dichter, haben mehr dazu beigetragen, unser eigenes Denken
und Empfinden zu emancipiren, als alle Germanisten.

Ich komme nach dieser Abschweifung auf das Proverbe zurück. Der erste
bedeutende Dichter, der sich in diesem Genre Auszeichnung erworben hat, Theodor
Leclercq, ist vor einigen Monaten gestorben. Er war im Jahre 1777 geboren,
und hatte in kleinen geselligen Kreisen, znerst angeregt durch Frau v. Genlis,
seine allerliebsten Einfälle improvisirt, bis sich endlich organisch ein stehendes Lieb-
habertheater und eine Sammlung ausgeführter Stücke daraus entwickelte, die er
später auf vielseitiges Drange" herausgab. Sie sind noch immer eine Lieblings-
lecture der Franzosen. Unter den neuen Dichtern, denen die raffinirte, künstliche
Form des Sprichworts beizumessen ist, sind vorzüglich Alfred de Musset und
Octave Fenillot zu nennen. Doch hat ziemlich jeder von den bekannteren
Lustspieldichtern sich auch in diesem Genre versucht, und daß anch der praktische
Scribe sich nach dieser Richtung hinwendet, spricht mehr als alles Uevrige für
die wachsende Popularität derselben.

Die sorgfältige Ausbildung dieser Spielart ist um so nützlicher, da im ne¬
bligen die Verwilderung des Theaters von Tage zu Tage zunimmt. In dem
regelmäßigen Lustspiel macht sich bei der Schnelligkeit, mit der die Dichter arbeiten,
fast ausschließlich die Routine geltend. Man begnügt sich mit einer neuen Com¬
bination der alten komischen Momente, ungefähr wie in den Zeiten Calderon's
und Lopa de Vega's; von einer neuen originellen Beobachtung des Lebens ist
keine Rede. Das gilt auch von dem neuesten dreiactigen Lustspiel, welches Scribe
für das 1'tlL^rs kran^us geschrieben hat: Die Damenschlacht, oder ein
Liebesduett. -- Allein Scribe bewahrt anch bei seinen leichtesten Arbeiten
imnier jenen gesunden Menschenverstand, den die Romantiker zu Gunsten der
Imagination vergebens ans dem Französischen Volk auszurotten suchten. Dagegen


übrigen Welt vctroyirt; uns geht Beides ab, wir sind weder sicher in uns selbst,
noch human und empfänglich für fremde Naturen. ES dürfte aber doch eine zu
gewagte Behauptung sein, wenn man diesen Mangel ans der Erbsünde des Bater
Adam oder aus irgend einem unbekannten Verbrechen unsers Ahnherrn Teut her¬
leiten wollte; er wurzelt vielmehr zuletzt in dem Grundübel unsrer Zustände, in
dem Mangel eines großen Ganzen, als dessen lebendiges Glied wir uns fühlen
könnten. Da aber die Zeit, wo wir uns eines freien und einigen Deutschland
rühmen könnten, noch ziemlich fern liegen mag, so wäre es doch gerathen, mit der
Verbesserung unsrer Sitten im Einzelnen nicht ans diese allgemeine Umgestaltung
zu warten, und dazu kann Niemand mehr beitragen, als unsre Lustspieldichter.
Wenn sie dabei den Einfluß der Französischen Bildung uicht vou sich abweise»,
so ist das kein Attentat gegen die Integrität unsres Deutschthums. Wir haben
ja erst im vorigen Jahrhundert ans den Lateinischen Dichtern gelernt, uns Deutsch
auszudrücken, und die Philologen, so wie die durch die classische Philosophie in-
spirirter lyrischen Dichter, haben mehr dazu beigetragen, unser eigenes Denken
und Empfinden zu emancipiren, als alle Germanisten.

Ich komme nach dieser Abschweifung auf das Proverbe zurück. Der erste
bedeutende Dichter, der sich in diesem Genre Auszeichnung erworben hat, Theodor
Leclercq, ist vor einigen Monaten gestorben. Er war im Jahre 1777 geboren,
und hatte in kleinen geselligen Kreisen, znerst angeregt durch Frau v. Genlis,
seine allerliebsten Einfälle improvisirt, bis sich endlich organisch ein stehendes Lieb-
habertheater und eine Sammlung ausgeführter Stücke daraus entwickelte, die er
später auf vielseitiges Drange» herausgab. Sie sind noch immer eine Lieblings-
lecture der Franzosen. Unter den neuen Dichtern, denen die raffinirte, künstliche
Form des Sprichworts beizumessen ist, sind vorzüglich Alfred de Musset und
Octave Fenillot zu nennen. Doch hat ziemlich jeder von den bekannteren
Lustspieldichtern sich auch in diesem Genre versucht, und daß anch der praktische
Scribe sich nach dieser Richtung hinwendet, spricht mehr als alles Uevrige für
die wachsende Popularität derselben.

Die sorgfältige Ausbildung dieser Spielart ist um so nützlicher, da im ne¬
bligen die Verwilderung des Theaters von Tage zu Tage zunimmt. In dem
regelmäßigen Lustspiel macht sich bei der Schnelligkeit, mit der die Dichter arbeiten,
fast ausschließlich die Routine geltend. Man begnügt sich mit einer neuen Com¬
bination der alten komischen Momente, ungefähr wie in den Zeiten Calderon's
und Lopa de Vega's; von einer neuen originellen Beobachtung des Lebens ist
keine Rede. Das gilt auch von dem neuesten dreiactigen Lustspiel, welches Scribe
für das 1'tlL^rs kran^us geschrieben hat: Die Damenschlacht, oder ein
Liebesduett. — Allein Scribe bewahrt anch bei seinen leichtesten Arbeiten
imnier jenen gesunden Menschenverstand, den die Romantiker zu Gunsten der
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/282>, abgerufen am 30.05.2024.