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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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heraus, daß auf der Nordseite die Bevölkerung Sächsisch, auf der Südseite, be¬
sonders im Stolberg-Stvlbergischen, Thüringisch ist. Wirklich schieden sich im
achten Jahrhundert die Sachsen und die Thüringer auf dem Scheitel des Gebirges.
Nach dem Froschmäusler wäre es in der Nähe des Falkensteins gewesen, wo die
Sachsen, ihrer Stammsage zufolge, auf den Bäumen gewachsen sind, was neuer¬
dings ein galanter Reim nur aus die "schonen Mädchen" im Königreich Sachsen
bezieht. Im Vorharz wird mir das niedersächsische Platt gesprochen, wie das
Hochdeutsche im Königreich Sachsen, in ziehender, singender Weise, aber nicht in
piependen, sondern in vollen und sogar dumpfen Lauten. Nach der politischen Ein-
theilung kann man die Bewohner des Anhaltischen und Preußischen Gebiets als die
cultivirtesten, die des Braunschweigischen, welche mit ihrer niedersächsischen Tracht
als echte Bauern erscheinen, und überhaupt mehr den Charakter der Bewohner
der großen Norddeutschen Ebene tragen, als die altväterischsten bezeichnen, während
man von der Hannoverischen Bevölkerung, namentlich mit Rücksicht aus den Ober¬
harz, sagen kann, daß sie allein den Charakter einer echten Gebirgsbevölkerung
trägt. Man darf dabei freilich uicht an jodelnde Aelpler und Sennerinnen denken,
denn der Harz ist das einzige echt protestantische Gebirge in ganz Deutschland, und
die Bergleute bilden hier auch insofern den Kern der Bevölkerung, als sie ihren
Landsmann, den Bergmannssohn aus dem Maunsseldcr Seekreis, der die fünf-
undneunzig Sätze an die Schloßkirche zu Wittenberg schlug, recht eigentlich als
ihren Schutzpatron betrachten. Bei der corporativen Verfassung, in der sich ihr
Leben bewegt, erbt sich ihr Stolz aus den Doctor Luther von Geschlecht zu Ge¬
schlecht fort, ganz besonders natürlich an der Ostgrenze des Harzes, bei den
Bergwerken in Eisleben und Mannsfeld; überall aber kommen in den Gebeten,
welche am Morgen vor dem Einfahren in den Schacht den Bergleuten von den
Vorbetern vorgelesen werden, zahlreiche, wo nicht tägliche Erinnerungen an ihn
vor, und ohnehin erinnert die Regelmäßigkeit, mit der auf dem Oberharz die
Puchjuugeu täglich zweimal katechisirt werden, noch lebhaft an die Strenge, mit
der der alte Luther sein Söhnlein täglich zur Schule trug, und es unbarmherzig
prügelte, wenn es Nichts lernte. So weit nördlich aber, als die Gebirgsnatur
ein armseliges Branukohlenflöz aussendet, dem MannSfeldische Bergleute nachgehen,
wie um Oscherslebcn, ja, bis in die dürren Marken hinein, sitzen sie auch an
gewissen Tagen früh bei ihren Grnbenlichtern in den Zechenhäusern zusammen,
feiern seinen Geburth- und Sterbetag und fingen Loblieder aus ihn, z. B. "Held
aus unserm Stamm".

An volksthümlichen Sitten und Gebräuchen, die nur ihm eigenthümlich wären,
ist der Harz nicht reich. Man geht in den Winterabenden in bestimmte Häuser
"Spelter", verzehrt noch die Martinsgans und trinkt tüchtig dazu, hauptsächlich wol
dem Doctor Martin Luther zu Ehren; am Ostermorgen früh vor Tag waschen sich
die Dirnen an den klaren Bergflüssen das Gesicht mit "Osterwasser", und schöpfen


heraus, daß auf der Nordseite die Bevölkerung Sächsisch, auf der Südseite, be¬
sonders im Stolberg-Stvlbergischen, Thüringisch ist. Wirklich schieden sich im
achten Jahrhundert die Sachsen und die Thüringer auf dem Scheitel des Gebirges.
Nach dem Froschmäusler wäre es in der Nähe des Falkensteins gewesen, wo die
Sachsen, ihrer Stammsage zufolge, auf den Bäumen gewachsen sind, was neuer¬
dings ein galanter Reim nur aus die „schonen Mädchen" im Königreich Sachsen
bezieht. Im Vorharz wird mir das niedersächsische Platt gesprochen, wie das
Hochdeutsche im Königreich Sachsen, in ziehender, singender Weise, aber nicht in
piependen, sondern in vollen und sogar dumpfen Lauten. Nach der politischen Ein-
theilung kann man die Bewohner des Anhaltischen und Preußischen Gebiets als die
cultivirtesten, die des Braunschweigischen, welche mit ihrer niedersächsischen Tracht
als echte Bauern erscheinen, und überhaupt mehr den Charakter der Bewohner
der großen Norddeutschen Ebene tragen, als die altväterischsten bezeichnen, während
man von der Hannoverischen Bevölkerung, namentlich mit Rücksicht aus den Ober¬
harz, sagen kann, daß sie allein den Charakter einer echten Gebirgsbevölkerung
trägt. Man darf dabei freilich uicht an jodelnde Aelpler und Sennerinnen denken,
denn der Harz ist das einzige echt protestantische Gebirge in ganz Deutschland, und
die Bergleute bilden hier auch insofern den Kern der Bevölkerung, als sie ihren
Landsmann, den Bergmannssohn aus dem Maunsseldcr Seekreis, der die fünf-
undneunzig Sätze an die Schloßkirche zu Wittenberg schlug, recht eigentlich als
ihren Schutzpatron betrachten. Bei der corporativen Verfassung, in der sich ihr
Leben bewegt, erbt sich ihr Stolz aus den Doctor Luther von Geschlecht zu Ge¬
schlecht fort, ganz besonders natürlich an der Ostgrenze des Harzes, bei den
Bergwerken in Eisleben und Mannsfeld; überall aber kommen in den Gebeten,
welche am Morgen vor dem Einfahren in den Schacht den Bergleuten von den
Vorbetern vorgelesen werden, zahlreiche, wo nicht tägliche Erinnerungen an ihn
vor, und ohnehin erinnert die Regelmäßigkeit, mit der auf dem Oberharz die
Puchjuugeu täglich zweimal katechisirt werden, noch lebhaft an die Strenge, mit
der der alte Luther sein Söhnlein täglich zur Schule trug, und es unbarmherzig
prügelte, wenn es Nichts lernte. So weit nördlich aber, als die Gebirgsnatur
ein armseliges Branukohlenflöz aussendet, dem MannSfeldische Bergleute nachgehen,
wie um Oscherslebcn, ja, bis in die dürren Marken hinein, sitzen sie auch an
gewissen Tagen früh bei ihren Grnbenlichtern in den Zechenhäusern zusammen,
feiern seinen Geburth- und Sterbetag und fingen Loblieder aus ihn, z. B. „Held
aus unserm Stamm".

An volksthümlichen Sitten und Gebräuchen, die nur ihm eigenthümlich wären,
ist der Harz nicht reich. Man geht in den Winterabenden in bestimmte Häuser
„Spelter", verzehrt noch die Martinsgans und trinkt tüchtig dazu, hauptsächlich wol
dem Doctor Martin Luther zu Ehren; am Ostermorgen früh vor Tag waschen sich
die Dirnen an den klaren Bergflüssen das Gesicht mit „Osterwasser", und schöpfen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/506>, abgerufen am 29.05.2024.