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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Ueberblicken wir die Reihe historischer Figuren, welche Walter Scott mit
Gewissenhaftigkeit den alten Chroniken nachgebildet, zu gleicher Zeit aber mit der
Meisterschaft eines Dichters zum Leben geweckt hat, so erscheint seine Kunst am
bewundernswürdigsten in den concreten Charaktere", in welchen wiederftrebende
Elemente sich mischen. Man vergleiche seine Schilderung Ludwigs XI. mit den
Berichten des Commes, so wird man ebenso über die Sicherheit des historische"
Blicks, wie über die Kunst, vereinzelte Notizen zu einem lebendigen Gemälde zu
vereinigen, erstaunen. Seine Maria Stuart im Abt, Königin Elisabeth, Jakob I.,
Cromwell, Karl II. u. s. w. wetteifern in der Sicherheit und zugleich in der To¬
talität ihrer Zeichnung mit Ranke'S Darstellungen. Beide Schriftsteller haben auch
das gemeinsam, daß sie in jedem Charakter, auch wenn er ihrem Gefühl oder
ihrem Verstand widerstrebt, die positive Seite aufsuche"; sie lassen steh niemals
auf blos satyrische Scheine" ein. Beide verstehen es aber auch zugleich, indem
sie mit voller Ehrbarkeit auf die Ideen und den Charakter ihres Gegenstandes
eingehen, durch einen leisen Humor ihre eigne Freiheit von den Voraussetzungen
anzudeuten, die sie begreifen, ohne sie zu theilen. Noch in höherem Grade ist
dies bei jener Form der Darstellung anzuerkennen, in welcher eine bestimmte
sittliche Richtung in eine typische Figur zusammengedrängt wird; in dieser Be-
ziehung sind diejenigen Romane, welche den Contrast des absterbenden Ritterthums
gegen die Gährung einer noch verworrenen, aber hoffnungsreichen jungen Gene¬
ration darstellen, die vollendetsten, also namentlich die Schilderungen von den
Kämpfen zwischen den Royalisten und Presbyterianern. Die auf- und abstei¬
gende Reihe der Schwärmer auf beideu Seiten in 016 mori-My gehört zu dem
Glänzendsten, was über diese Zeiten geschrieben ist, vorzüglich weil es doch nicht
blos Typen sind, mit denen wir zu thun haben, sondern wirkliche Individualitäten.
Zwar neigt sich sein Herz überall auf Seite der Tones, und von Seiten strengerer
Protestanten ist es ihm namentlich verdacht worden, wen" er in dem blutigen
Claverhouse mit besonderer Vorliebe die romantische und chevalereske Seite zeichnet,
aber man darf es nicht vergessen, daß der entgegengesetzten Weltanschauung ebenso
ihr Recht widerfährt, und daß beide Extreme durch den vermittelnden Verstand
des Haupthelden in ihre Schranken zurückgewiesen werden. Wen" ma" es über¬
haupt an den Helden Walter Scott's tadelt, daß sie passiver Natur sind und ein
bei weitem geringeres Interesse einflößen, als die finstern, befangenen, aber ge¬
waltigen Gestalten, die anf sie einwirken, so verkennt man die eigentliche Bedeutung
dieser Figuren. Sie vertreten die Stelle des griechischem Chors und geben die
ideale sittliche Ansicht des Dichters, durch welche die ganze Handlung erst ihr
richtiges Verständniß und ihre richtige Stellung gewinnt. Wenn man daher von
der Sittlichkeit Walter Scott's spricht, so ist darunter weniger jene Enthaltsamkeit
in geschlechtlichen Verhältnissen zu verstehen, welche freilich bei der Prüderie der
englischen Gesellschaft wesentlich dazu beigetragen hat, seinen Ruf sicher zu stellen,


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Ueberblicken wir die Reihe historischer Figuren, welche Walter Scott mit
Gewissenhaftigkeit den alten Chroniken nachgebildet, zu gleicher Zeit aber mit der
Meisterschaft eines Dichters zum Leben geweckt hat, so erscheint seine Kunst am
bewundernswürdigsten in den concreten Charaktere», in welchen wiederftrebende
Elemente sich mischen. Man vergleiche seine Schilderung Ludwigs XI. mit den
Berichten des Commes, so wird man ebenso über die Sicherheit des historische»
Blicks, wie über die Kunst, vereinzelte Notizen zu einem lebendigen Gemälde zu
vereinigen, erstaunen. Seine Maria Stuart im Abt, Königin Elisabeth, Jakob I.,
Cromwell, Karl II. u. s. w. wetteifern in der Sicherheit und zugleich in der To¬
talität ihrer Zeichnung mit Ranke'S Darstellungen. Beide Schriftsteller haben auch
das gemeinsam, daß sie in jedem Charakter, auch wenn er ihrem Gefühl oder
ihrem Verstand widerstrebt, die positive Seite aufsuche»; sie lassen steh niemals
auf blos satyrische Scheine» ein. Beide verstehen es aber auch zugleich, indem
sie mit voller Ehrbarkeit auf die Ideen und den Charakter ihres Gegenstandes
eingehen, durch einen leisen Humor ihre eigne Freiheit von den Voraussetzungen
anzudeuten, die sie begreifen, ohne sie zu theilen. Noch in höherem Grade ist
dies bei jener Form der Darstellung anzuerkennen, in welcher eine bestimmte
sittliche Richtung in eine typische Figur zusammengedrängt wird; in dieser Be-
ziehung sind diejenigen Romane, welche den Contrast des absterbenden Ritterthums
gegen die Gährung einer noch verworrenen, aber hoffnungsreichen jungen Gene¬
ration darstellen, die vollendetsten, also namentlich die Schilderungen von den
Kämpfen zwischen den Royalisten und Presbyterianern. Die auf- und abstei¬
gende Reihe der Schwärmer auf beideu Seiten in 016 mori-My gehört zu dem
Glänzendsten, was über diese Zeiten geschrieben ist, vorzüglich weil es doch nicht
blos Typen sind, mit denen wir zu thun haben, sondern wirkliche Individualitäten.
Zwar neigt sich sein Herz überall auf Seite der Tones, und von Seiten strengerer
Protestanten ist es ihm namentlich verdacht worden, wen» er in dem blutigen
Claverhouse mit besonderer Vorliebe die romantische und chevalereske Seite zeichnet,
aber man darf es nicht vergessen, daß der entgegengesetzten Weltanschauung ebenso
ihr Recht widerfährt, und daß beide Extreme durch den vermittelnden Verstand
des Haupthelden in ihre Schranken zurückgewiesen werden. Wen» ma» es über¬
haupt an den Helden Walter Scott's tadelt, daß sie passiver Natur sind und ein
bei weitem geringeres Interesse einflößen, als die finstern, befangenen, aber ge¬
waltigen Gestalten, die anf sie einwirken, so verkennt man die eigentliche Bedeutung
dieser Figuren. Sie vertreten die Stelle des griechischem Chors und geben die
ideale sittliche Ansicht des Dichters, durch welche die ganze Handlung erst ihr
richtiges Verständniß und ihre richtige Stellung gewinnt. Wenn man daher von
der Sittlichkeit Walter Scott's spricht, so ist darunter weniger jene Enthaltsamkeit
in geschlechtlichen Verhältnissen zu verstehen, welche freilich bei der Prüderie der
englischen Gesellschaft wesentlich dazu beigetragen hat, seinen Ruf sicher zu stellen,


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[0063] Ueberblicken wir die Reihe historischer Figuren, welche Walter Scott mit Gewissenhaftigkeit den alten Chroniken nachgebildet, zu gleicher Zeit aber mit der Meisterschaft eines Dichters zum Leben geweckt hat, so erscheint seine Kunst am bewundernswürdigsten in den concreten Charaktere», in welchen wiederftrebende Elemente sich mischen. Man vergleiche seine Schilderung Ludwigs XI. mit den Berichten des Commes, so wird man ebenso über die Sicherheit des historische» Blicks, wie über die Kunst, vereinzelte Notizen zu einem lebendigen Gemälde zu vereinigen, erstaunen. Seine Maria Stuart im Abt, Königin Elisabeth, Jakob I., Cromwell, Karl II. u. s. w. wetteifern in der Sicherheit und zugleich in der To¬ talität ihrer Zeichnung mit Ranke'S Darstellungen. Beide Schriftsteller haben auch das gemeinsam, daß sie in jedem Charakter, auch wenn er ihrem Gefühl oder ihrem Verstand widerstrebt, die positive Seite aufsuche»; sie lassen steh niemals auf blos satyrische Scheine» ein. Beide verstehen es aber auch zugleich, indem sie mit voller Ehrbarkeit auf die Ideen und den Charakter ihres Gegenstandes eingehen, durch einen leisen Humor ihre eigne Freiheit von den Voraussetzungen anzudeuten, die sie begreifen, ohne sie zu theilen. Noch in höherem Grade ist dies bei jener Form der Darstellung anzuerkennen, in welcher eine bestimmte sittliche Richtung in eine typische Figur zusammengedrängt wird; in dieser Be- ziehung sind diejenigen Romane, welche den Contrast des absterbenden Ritterthums gegen die Gährung einer noch verworrenen, aber hoffnungsreichen jungen Gene¬ ration darstellen, die vollendetsten, also namentlich die Schilderungen von den Kämpfen zwischen den Royalisten und Presbyterianern. Die auf- und abstei¬ gende Reihe der Schwärmer auf beideu Seiten in 016 mori-My gehört zu dem Glänzendsten, was über diese Zeiten geschrieben ist, vorzüglich weil es doch nicht blos Typen sind, mit denen wir zu thun haben, sondern wirkliche Individualitäten. Zwar neigt sich sein Herz überall auf Seite der Tones, und von Seiten strengerer Protestanten ist es ihm namentlich verdacht worden, wen» er in dem blutigen Claverhouse mit besonderer Vorliebe die romantische und chevalereske Seite zeichnet, aber man darf es nicht vergessen, daß der entgegengesetzten Weltanschauung ebenso ihr Recht widerfährt, und daß beide Extreme durch den vermittelnden Verstand des Haupthelden in ihre Schranken zurückgewiesen werden. Wen» ma» es über¬ haupt an den Helden Walter Scott's tadelt, daß sie passiver Natur sind und ein bei weitem geringeres Interesse einflößen, als die finstern, befangenen, aber ge¬ waltigen Gestalten, die anf sie einwirken, so verkennt man die eigentliche Bedeutung dieser Figuren. Sie vertreten die Stelle des griechischem Chors und geben die ideale sittliche Ansicht des Dichters, durch welche die ganze Handlung erst ihr richtiges Verständniß und ihre richtige Stellung gewinnt. Wenn man daher von der Sittlichkeit Walter Scott's spricht, so ist darunter weniger jene Enthaltsamkeit in geschlechtlichen Verhältnissen zu verstehen, welche freilich bei der Prüderie der englischen Gesellschaft wesentlich dazu beigetragen hat, seinen Ruf sicher zu stellen, > 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/63>, abgerufen am 05.06.2024.