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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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als jener Ernst, mit dem er sich über die dargestellten Einseitigkeiten erhebt, in
demselben Augenblick, wo er sie mit Hingebung schildert. Diese Mischung von
strengem sittlichem Ernst und liebenswürdiger Bescheidenheit, welche das eigentliche
Wesen des englischen Gentleman ausmacht, verleiht auch deu unbedeutendsten
Figuren seiner Helden oder ersten ^Liebhaber das nämliche Interesse der Anmuth,
durch welches sich Walter Scott selbst so erfreulich Ivon den übrigen excentrischen
Dichtern seiner Zeit unterscheidet. Sein Verstand ist klar und nüchtern, und doch
begreift er jeden Enthusiasmus; er ist tolerant gegen jede Eigenthümlichkeit, und
hat doch überall das Gepräge der allgemeinen Form; er vertieft sich in alle Sym¬
pathien der romantisch-historischen Reminiscenzen, und begleitet sie doch mit gelinder,
sehr wohlthuender Ironie.

Das ist es, was ich bei seinem Uebergang vom Epos zum Roman andeutete.
Der eigentliche Gegenstand.seiner Romane ist die Romantik seiner epischen Ge¬
dichte, die hochländischen Clanshäuptlinge, Seeräuber, Zigeuner und Schmuggler,
Ahnenstölze, Astrologen und bigotte Katholiken, Kavaliere und Rundköpfe und
dergleichen; aber er sieht sie nicht mehr blos objectiv an, sondern mit dem scharfen
Auge seiner eigenen Bildung und seines sittlichen Gefühls. Darum eignet sich
seine Form am meisten für die Darstellung der jüngsten Vergangenheit, in der
die Repräsentanten der richtigen sittlichen Mitte, die Waverleh, die Morton, die
Osbaldistone n. s. w. noch ihre Stätte finden; im Mittelalter müßte man sie erst
künstlich hineinzwingen und dadurch die Einheit und Wahrheit des historischen
Gemäldes stören.

Am eigenthümlichsten gestaltet sich dieses seiner Doppelnatur entsprechende
Verhältniß in der Darstellung des specifisch Romantischen, der Geister- und
Hexengeschichten, der Normen und Zigeunermütter, der Leicheuweiber und Wahn¬
sinnigen. Es ist das zu gleicher Zeit die Doppelnatur des englischen Volks. Der
nüchternste Verstand liegt hart neben den Excentricitäten des Spleens, und alle
Dichter, von Shakespeare an bis auf Dickens, haben nicht verfehlt, sich mit
dergleichen Nachtstücken mehr zu thun zu machen, als für ihren Zweck unumgäng¬
lich nothwendig war. Walter Scott hat darin von ihnen allen vielleicht die meiste
Tiefe entwickelt und zu gleicher Zeit das größte ästhetische Maaß, denn diese
Nachtstücke sind überall uur der nothwendige Schatten, der das Licht und die
Farbe des übrigen Gemäldes noch heiterer und bestimmter hervortreten läßt. Zu¬
weilen sind es blos landschaftliche Effecte, wie z. B. Meg Merillies und
das tolle Mädchen im Herzen von Midlothicm; zuweilen ist es aber auch eine
psychologische Studie. Das glänzendste Beispiel des Leitern ist die Darstellung
in der Braut von Lammermoor, wie Lucie allmälig zum Wahnsinn getrieben wird.
Dagegen mißglückt es ihm stets, wenn er eine wirkliche übersinnliche Welt dar¬
stellen will, wie im Kloster und in den Verlobten; gerade weil er dazu viel zu


als jener Ernst, mit dem er sich über die dargestellten Einseitigkeiten erhebt, in
demselben Augenblick, wo er sie mit Hingebung schildert. Diese Mischung von
strengem sittlichem Ernst und liebenswürdiger Bescheidenheit, welche das eigentliche
Wesen des englischen Gentleman ausmacht, verleiht auch deu unbedeutendsten
Figuren seiner Helden oder ersten ^Liebhaber das nämliche Interesse der Anmuth,
durch welches sich Walter Scott selbst so erfreulich Ivon den übrigen excentrischen
Dichtern seiner Zeit unterscheidet. Sein Verstand ist klar und nüchtern, und doch
begreift er jeden Enthusiasmus; er ist tolerant gegen jede Eigenthümlichkeit, und
hat doch überall das Gepräge der allgemeinen Form; er vertieft sich in alle Sym¬
pathien der romantisch-historischen Reminiscenzen, und begleitet sie doch mit gelinder,
sehr wohlthuender Ironie.

Das ist es, was ich bei seinem Uebergang vom Epos zum Roman andeutete.
Der eigentliche Gegenstand.seiner Romane ist die Romantik seiner epischen Ge¬
dichte, die hochländischen Clanshäuptlinge, Seeräuber, Zigeuner und Schmuggler,
Ahnenstölze, Astrologen und bigotte Katholiken, Kavaliere und Rundköpfe und
dergleichen; aber er sieht sie nicht mehr blos objectiv an, sondern mit dem scharfen
Auge seiner eigenen Bildung und seines sittlichen Gefühls. Darum eignet sich
seine Form am meisten für die Darstellung der jüngsten Vergangenheit, in der
die Repräsentanten der richtigen sittlichen Mitte, die Waverleh, die Morton, die
Osbaldistone n. s. w. noch ihre Stätte finden; im Mittelalter müßte man sie erst
künstlich hineinzwingen und dadurch die Einheit und Wahrheit des historischen
Gemäldes stören.

Am eigenthümlichsten gestaltet sich dieses seiner Doppelnatur entsprechende
Verhältniß in der Darstellung des specifisch Romantischen, der Geister- und
Hexengeschichten, der Normen und Zigeunermütter, der Leicheuweiber und Wahn¬
sinnigen. Es ist das zu gleicher Zeit die Doppelnatur des englischen Volks. Der
nüchternste Verstand liegt hart neben den Excentricitäten des Spleens, und alle
Dichter, von Shakespeare an bis auf Dickens, haben nicht verfehlt, sich mit
dergleichen Nachtstücken mehr zu thun zu machen, als für ihren Zweck unumgäng¬
lich nothwendig war. Walter Scott hat darin von ihnen allen vielleicht die meiste
Tiefe entwickelt und zu gleicher Zeit das größte ästhetische Maaß, denn diese
Nachtstücke sind überall uur der nothwendige Schatten, der das Licht und die
Farbe des übrigen Gemäldes noch heiterer und bestimmter hervortreten läßt. Zu¬
weilen sind es blos landschaftliche Effecte, wie z. B. Meg Merillies und
das tolle Mädchen im Herzen von Midlothicm; zuweilen ist es aber auch eine
psychologische Studie. Das glänzendste Beispiel des Leitern ist die Darstellung
in der Braut von Lammermoor, wie Lucie allmälig zum Wahnsinn getrieben wird.
Dagegen mißglückt es ihm stets, wenn er eine wirkliche übersinnliche Welt dar¬
stellen will, wie im Kloster und in den Verlobten; gerade weil er dazu viel zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/64>, abgerufen am 29.05.2024.