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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Lande aufstoßen, haben sie dagegen einen großen Reichthum. Ihre Jahre rech¬
nen sie nach Wintern, aber über zwanzig hinaus zählen sie nicht, und obwohl sie
ihren Stammbaum viele Geschlechter hinauf nachweisen, so weiß doch kein bejahrter
Mann, wie alt er eigentlich sei; mehr als zwanzig ist "viel, sehr viel, nicht zu
zählen." Vom Schreiben hatten sie vor Ankunft der Missionäre keinen Begriff.
Eine Geschichte hat dieses Volk natürlich gar nicht, und was an Ueberlieferungen
etwa vorkommt, ist dunkel. Das Wenige, was bei ihnen von religiösen Vorstel-
lungen sich findet, erscheint ganz roh; sie haben in ihrer Sprache kein Wort für
Gott, und eben so wenig beten sie; aber der Glaube an eine Fortdauer der
Seele ist vorhanden. Torngarsuk, ein guter Geist, ist so groß wie eines Mannes
Finger, und sterblich; Manche stellen sich denselben aber auch als einen weißen
Bären, oder als einarmigen Niesen vor. Neben diesem mächtigen Geiste gibt es
kleinere für Feuer, Wasser und Luft, Torngarsnk hat ein Weib oder eine Mutter,
in welcher das Princip des Bösen verkörpert gedacht wird. Sie wohnt ans dem
Meeresgrund, wird von Seehunden bewacht und gebietet den Fischen. Diese
Mythologie wird vou den Zauberern oder Angekokks noch weiter ausgeschmückt.
Diese Betrüger haben großen Einfluß, geben Orakel, beschwören Kranke und
verkündigen Witterungswechsel. Sie haben unter sich eine besondere Sprechweise,
die das Volk nicht versteht, da sie alle Worte metaphorisch oder in einer ent¬
gegengesetzten Bedeutung gebrauchen, aber nur bei ihren Hexereien. Diese
Zauberer unterhalten den Glanben, daß sie im Dunkeln Hexen sehen könnten,
welche Hörner haben und von den Fingern bis zum Ellbogen schwarz sind.
Gegen vermeintliche Hexen verfährt der sonst so milde und sanfte Grönländer
ganz unmenschlich. Eine "Jlliseetsovk" wird aus der Hütte oder dem Zelte ge¬
rissen, erstochen und in Stücke geschnitten; jeder bei der Hinrichtung Betheiligte
verzehrt ein Stück vom Herzen, damit der Geist der Ermordeten ihn nicht beun¬
ruhigen könne. Insgemein wird eine alte schwache Frau, der es an einem Be¬
schützer fehlt, für eine Hexe erklärt. Sie glauben an Tornak oder Schutzgeister,
und tragen als Amulete Fuchskiefern, Rabenköpfe, Falkenklauen und dergleichen
am Halse. Es ist ihnen sehr schwer geworden, am christlichen Himmel Gefallen
zu finden, da derselbe nicht das ausweist, worauf sie den höchsten Werth legen,
nämlich Seehunde. Sie glauben, daß Alles, was sie am Himmel und auf Erden
sehen, seinen Ursprung aus ihrem Lande habe. Das Himmelsgewölbe dreht sich
rund um einen hohen spitzen Berg im Norden herum; den großen Bär verglei¬
chen sie mit einem Stuhle, auf welchem sie ihre Taue und Harpunen zum See¬
hundsfange befestigen; der Gürtel Orions besteht ans Grönländern, die an den
Himmel versetzt wurden, als sie den Weg zu ihrem eigenen Lande nicht finden
konnten; das Siebengestirn sind heulende Hunde, die einen Bären unter sich
haben. Die rothschimmernden Sterne essen Seehundsleber, die weißen See--
hnndsnieren; das Nordlicht kommt von den Seelen der Abgeschiedenen her, wenn


Lande aufstoßen, haben sie dagegen einen großen Reichthum. Ihre Jahre rech¬
nen sie nach Wintern, aber über zwanzig hinaus zählen sie nicht, und obwohl sie
ihren Stammbaum viele Geschlechter hinauf nachweisen, so weiß doch kein bejahrter
Mann, wie alt er eigentlich sei; mehr als zwanzig ist „viel, sehr viel, nicht zu
zählen." Vom Schreiben hatten sie vor Ankunft der Missionäre keinen Begriff.
Eine Geschichte hat dieses Volk natürlich gar nicht, und was an Ueberlieferungen
etwa vorkommt, ist dunkel. Das Wenige, was bei ihnen von religiösen Vorstel-
lungen sich findet, erscheint ganz roh; sie haben in ihrer Sprache kein Wort für
Gott, und eben so wenig beten sie; aber der Glaube an eine Fortdauer der
Seele ist vorhanden. Torngarsuk, ein guter Geist, ist so groß wie eines Mannes
Finger, und sterblich; Manche stellen sich denselben aber auch als einen weißen
Bären, oder als einarmigen Niesen vor. Neben diesem mächtigen Geiste gibt es
kleinere für Feuer, Wasser und Luft, Torngarsnk hat ein Weib oder eine Mutter,
in welcher das Princip des Bösen verkörpert gedacht wird. Sie wohnt ans dem
Meeresgrund, wird von Seehunden bewacht und gebietet den Fischen. Diese
Mythologie wird vou den Zauberern oder Angekokks noch weiter ausgeschmückt.
Diese Betrüger haben großen Einfluß, geben Orakel, beschwören Kranke und
verkündigen Witterungswechsel. Sie haben unter sich eine besondere Sprechweise,
die das Volk nicht versteht, da sie alle Worte metaphorisch oder in einer ent¬
gegengesetzten Bedeutung gebrauchen, aber nur bei ihren Hexereien. Diese
Zauberer unterhalten den Glanben, daß sie im Dunkeln Hexen sehen könnten,
welche Hörner haben und von den Fingern bis zum Ellbogen schwarz sind.
Gegen vermeintliche Hexen verfährt der sonst so milde und sanfte Grönländer
ganz unmenschlich. Eine „Jlliseetsovk" wird aus der Hütte oder dem Zelte ge¬
rissen, erstochen und in Stücke geschnitten; jeder bei der Hinrichtung Betheiligte
verzehrt ein Stück vom Herzen, damit der Geist der Ermordeten ihn nicht beun¬
ruhigen könne. Insgemein wird eine alte schwache Frau, der es an einem Be¬
schützer fehlt, für eine Hexe erklärt. Sie glauben an Tornak oder Schutzgeister,
und tragen als Amulete Fuchskiefern, Rabenköpfe, Falkenklauen und dergleichen
am Halse. Es ist ihnen sehr schwer geworden, am christlichen Himmel Gefallen
zu finden, da derselbe nicht das ausweist, worauf sie den höchsten Werth legen,
nämlich Seehunde. Sie glauben, daß Alles, was sie am Himmel und auf Erden
sehen, seinen Ursprung aus ihrem Lande habe. Das Himmelsgewölbe dreht sich
rund um einen hohen spitzen Berg im Norden herum; den großen Bär verglei¬
chen sie mit einem Stuhle, auf welchem sie ihre Taue und Harpunen zum See¬
hundsfange befestigen; der Gürtel Orions besteht ans Grönländern, die an den
Himmel versetzt wurden, als sie den Weg zu ihrem eigenen Lande nicht finden
konnten; das Siebengestirn sind heulende Hunde, die einen Bären unter sich
haben. Die rothschimmernden Sterne essen Seehundsleber, die weißen See--
hnndsnieren; das Nordlicht kommt von den Seelen der Abgeschiedenen her, wenn


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[0118] Lande aufstoßen, haben sie dagegen einen großen Reichthum. Ihre Jahre rech¬ nen sie nach Wintern, aber über zwanzig hinaus zählen sie nicht, und obwohl sie ihren Stammbaum viele Geschlechter hinauf nachweisen, so weiß doch kein bejahrter Mann, wie alt er eigentlich sei; mehr als zwanzig ist „viel, sehr viel, nicht zu zählen." Vom Schreiben hatten sie vor Ankunft der Missionäre keinen Begriff. Eine Geschichte hat dieses Volk natürlich gar nicht, und was an Ueberlieferungen etwa vorkommt, ist dunkel. Das Wenige, was bei ihnen von religiösen Vorstel- lungen sich findet, erscheint ganz roh; sie haben in ihrer Sprache kein Wort für Gott, und eben so wenig beten sie; aber der Glaube an eine Fortdauer der Seele ist vorhanden. Torngarsuk, ein guter Geist, ist so groß wie eines Mannes Finger, und sterblich; Manche stellen sich denselben aber auch als einen weißen Bären, oder als einarmigen Niesen vor. Neben diesem mächtigen Geiste gibt es kleinere für Feuer, Wasser und Luft, Torngarsnk hat ein Weib oder eine Mutter, in welcher das Princip des Bösen verkörpert gedacht wird. Sie wohnt ans dem Meeresgrund, wird von Seehunden bewacht und gebietet den Fischen. Diese Mythologie wird vou den Zauberern oder Angekokks noch weiter ausgeschmückt. Diese Betrüger haben großen Einfluß, geben Orakel, beschwören Kranke und verkündigen Witterungswechsel. Sie haben unter sich eine besondere Sprechweise, die das Volk nicht versteht, da sie alle Worte metaphorisch oder in einer ent¬ gegengesetzten Bedeutung gebrauchen, aber nur bei ihren Hexereien. Diese Zauberer unterhalten den Glanben, daß sie im Dunkeln Hexen sehen könnten, welche Hörner haben und von den Fingern bis zum Ellbogen schwarz sind. Gegen vermeintliche Hexen verfährt der sonst so milde und sanfte Grönländer ganz unmenschlich. Eine „Jlliseetsovk" wird aus der Hütte oder dem Zelte ge¬ rissen, erstochen und in Stücke geschnitten; jeder bei der Hinrichtung Betheiligte verzehrt ein Stück vom Herzen, damit der Geist der Ermordeten ihn nicht beun¬ ruhigen könne. Insgemein wird eine alte schwache Frau, der es an einem Be¬ schützer fehlt, für eine Hexe erklärt. Sie glauben an Tornak oder Schutzgeister, und tragen als Amulete Fuchskiefern, Rabenköpfe, Falkenklauen und dergleichen am Halse. Es ist ihnen sehr schwer geworden, am christlichen Himmel Gefallen zu finden, da derselbe nicht das ausweist, worauf sie den höchsten Werth legen, nämlich Seehunde. Sie glauben, daß Alles, was sie am Himmel und auf Erden sehen, seinen Ursprung aus ihrem Lande habe. Das Himmelsgewölbe dreht sich rund um einen hohen spitzen Berg im Norden herum; den großen Bär verglei¬ chen sie mit einem Stuhle, auf welchem sie ihre Taue und Harpunen zum See¬ hundsfange befestigen; der Gürtel Orions besteht ans Grönländern, die an den Himmel versetzt wurden, als sie den Weg zu ihrem eigenen Lande nicht finden konnten; das Siebengestirn sind heulende Hunde, die einen Bären unter sich haben. Die rothschimmernden Sterne essen Seehundsleber, die weißen See-- hnndsnieren; das Nordlicht kommt von den Seelen der Abgeschiedenen her, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/118>, abgerufen am 16.06.2024.