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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Notizen. Zwei andere Dramen, von denen in diesen Briefen die Rede ist, schei¬
nen verloren gegangen zu sein.

Das Novellenfragment behandelt das Schicksal des unglücklichen Dichters
Lenz, des Jugendfreundes von Goethe, ans welchen Tieck einige Jahre vorher
durch die Ausgabe seiner dramatischen Schriften das Publicum wieder aufmerksam
gemacht hatte. Büchner ehrte in ihm den Geistesverwandten. ''Das Fragment
-- wenn es anders so genannt werden kann, da es eigentlich eine vollständig
abgeschlossene Erzählung enthält, beginnt mit einer Fußpartie, ans welcher der
Dichter schon fast ganz wahnsinnig ist, und schließt mit dem vollständigen Wahn¬
sinn. Ich setze den Anfang her. "Am 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die
Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hinunter grünes Gestein,
grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die
Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Aeste der Tannen hingen schwer
herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen grüne Wolken, aber Alles so dicht,
und dann dampfte der Nebel heraus und strich schwer und feucht durch das Ge¬
sträuch, so kurz, so plump. Er ging gleichgültig weiter , es lag ihm nichts am
Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm
manchmal unangenehm, daß er nicht ans dem Kopfe gehen konnte.
Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der grüne
Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald
die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas,
wie nach Verlornen Träumen, aber er fand nichts." u. f. w. -- Wenn das
schon auf der ersten Seite so geht, so kann man sich vorstellen, wie bei gesteiger¬
tem Fieber die Empfindungen und Einfälle in bunten Wechsel sich drängen.

Ich halte deu Versuch, den Wahnsinn darzustellen, wenn er etwas mehr sein
soll, als das deutlich erkannte Resultat eines tragischen Schicksals, oder als eine
vorübergehende Staffage, um die augenblickliche Stimmung auszudrücken, für den
Einfall einer krankhaften Natur. Die Darstellung des Wahnsinns ist eine nn-
künstlerische Aufgabe,, denn der Wahnsinn, als die Negativität des Geistes, folgt
keinem geistigen Gesetz; die Willkür hat einen unermeßlichen Spielraum, und die
hervorzurufender Stimmungen contrastiren so gewaltsau: mit einander, daß ein
lebendiger Eindruck uicht möglich ist. Ueber das Widersinnige müssen wir lachen,
und doch schaudert es uns vor diesen! unheimlichen Selbstverlnst des Geistes.
Der Wahnsinn als solcher gehört in das Gebiet der Pathologie, und hat ebenso
wenig das Recht, poetisch behandelt zu werden, als das Lazarett) und die Folter.
Am erträglichsten ist es noch, wenn der komische Effect die Hauptsache ist, wie
z. B. in der Monographie eines werdenden Wahnsinnigen in den Pickwickiern;
aber Gott behüte uns auch vor dieser Komik. Am schlimmsten ist es, wenn sich
der Dichter so in die zerrissene Seele seines Gegenstandes versetzt, daß sich ihm
selber die Welt im Fiebertraum dreht. Das ist hier der Fall.


Notizen. Zwei andere Dramen, von denen in diesen Briefen die Rede ist, schei¬
nen verloren gegangen zu sein.

Das Novellenfragment behandelt das Schicksal des unglücklichen Dichters
Lenz, des Jugendfreundes von Goethe, ans welchen Tieck einige Jahre vorher
durch die Ausgabe seiner dramatischen Schriften das Publicum wieder aufmerksam
gemacht hatte. Büchner ehrte in ihm den Geistesverwandten. ''Das Fragment
— wenn es anders so genannt werden kann, da es eigentlich eine vollständig
abgeschlossene Erzählung enthält, beginnt mit einer Fußpartie, ans welcher der
Dichter schon fast ganz wahnsinnig ist, und schließt mit dem vollständigen Wahn¬
sinn. Ich setze den Anfang her. „Am 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die
Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hinunter grünes Gestein,
grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die
Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Aeste der Tannen hingen schwer
herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen grüne Wolken, aber Alles so dicht,
und dann dampfte der Nebel heraus und strich schwer und feucht durch das Ge¬
sträuch, so kurz, so plump. Er ging gleichgültig weiter , es lag ihm nichts am
Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm
manchmal unangenehm, daß er nicht ans dem Kopfe gehen konnte.
Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der grüne
Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald
die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas,
wie nach Verlornen Träumen, aber er fand nichts." u. f. w. — Wenn das
schon auf der ersten Seite so geht, so kann man sich vorstellen, wie bei gesteiger¬
tem Fieber die Empfindungen und Einfälle in bunten Wechsel sich drängen.

Ich halte deu Versuch, den Wahnsinn darzustellen, wenn er etwas mehr sein
soll, als das deutlich erkannte Resultat eines tragischen Schicksals, oder als eine
vorübergehende Staffage, um die augenblickliche Stimmung auszudrücken, für den
Einfall einer krankhaften Natur. Die Darstellung des Wahnsinns ist eine nn-
künstlerische Aufgabe,, denn der Wahnsinn, als die Negativität des Geistes, folgt
keinem geistigen Gesetz; die Willkür hat einen unermeßlichen Spielraum, und die
hervorzurufender Stimmungen contrastiren so gewaltsau: mit einander, daß ein
lebendiger Eindruck uicht möglich ist. Ueber das Widersinnige müssen wir lachen,
und doch schaudert es uns vor diesen! unheimlichen Selbstverlnst des Geistes.
Der Wahnsinn als solcher gehört in das Gebiet der Pathologie, und hat ebenso
wenig das Recht, poetisch behandelt zu werden, als das Lazarett) und die Folter.
Am erträglichsten ist es noch, wenn der komische Effect die Hauptsache ist, wie
z. B. in der Monographie eines werdenden Wahnsinnigen in den Pickwickiern;
aber Gott behüte uns auch vor dieser Komik. Am schlimmsten ist es, wenn sich
der Dichter so in die zerrissene Seele seines Gegenstandes versetzt, daß sich ihm
selber die Welt im Fiebertraum dreht. Das ist hier der Fall.


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[0134] Notizen. Zwei andere Dramen, von denen in diesen Briefen die Rede ist, schei¬ nen verloren gegangen zu sein. Das Novellenfragment behandelt das Schicksal des unglücklichen Dichters Lenz, des Jugendfreundes von Goethe, ans welchen Tieck einige Jahre vorher durch die Ausgabe seiner dramatischen Schriften das Publicum wieder aufmerksam gemacht hatte. Büchner ehrte in ihm den Geistesverwandten. ''Das Fragment — wenn es anders so genannt werden kann, da es eigentlich eine vollständig abgeschlossene Erzählung enthält, beginnt mit einer Fußpartie, ans welcher der Dichter schon fast ganz wahnsinnig ist, und schließt mit dem vollständigen Wahn¬ sinn. Ich setze den Anfang her. „Am 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hinunter grünes Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Aeste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen grüne Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel heraus und strich schwer und feucht durch das Ge¬ sträuch, so kurz, so plump. Er ging gleichgültig weiter , es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht ans dem Kopfe gehen konnte. Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der grüne Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach Verlornen Träumen, aber er fand nichts." u. f. w. — Wenn das schon auf der ersten Seite so geht, so kann man sich vorstellen, wie bei gesteiger¬ tem Fieber die Empfindungen und Einfälle in bunten Wechsel sich drängen. Ich halte deu Versuch, den Wahnsinn darzustellen, wenn er etwas mehr sein soll, als das deutlich erkannte Resultat eines tragischen Schicksals, oder als eine vorübergehende Staffage, um die augenblickliche Stimmung auszudrücken, für den Einfall einer krankhaften Natur. Die Darstellung des Wahnsinns ist eine nn- künstlerische Aufgabe,, denn der Wahnsinn, als die Negativität des Geistes, folgt keinem geistigen Gesetz; die Willkür hat einen unermeßlichen Spielraum, und die hervorzurufender Stimmungen contrastiren so gewaltsau: mit einander, daß ein lebendiger Eindruck uicht möglich ist. Ueber das Widersinnige müssen wir lachen, und doch schaudert es uns vor diesen! unheimlichen Selbstverlnst des Geistes. Der Wahnsinn als solcher gehört in das Gebiet der Pathologie, und hat ebenso wenig das Recht, poetisch behandelt zu werden, als das Lazarett) und die Folter. Am erträglichsten ist es noch, wenn der komische Effect die Hauptsache ist, wie z. B. in der Monographie eines werdenden Wahnsinnigen in den Pickwickiern; aber Gott behüte uns auch vor dieser Komik. Am schlimmsten ist es, wenn sich der Dichter so in die zerrissene Seele seines Gegenstandes versetzt, daß sich ihm selber die Welt im Fiebertraum dreht. Das ist hier der Fall.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/134>, abgerufen am 16.06.2024.