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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Dorfe an. Dort wird er mit Vorurtheilen empfangen, die er bald zu besiegen weiß,
lernt wieder eine Anzahl seltsamer und tüchtiger Menschen kennen, einen liberalen
Edelmann, Krvuauer, einen Dvrfdemagogen, frühern Schullehrer Kaidl, einen
Knecht Barthelmä, der ein verdorbener Student und Kriegskamerad Engeus im
Aufstände ist, nud unter den Dorflenteu die Familie deö Bachmüllers, Manu,
Frau nud eine Tochter, prächtige Leute. Er übernimmt seine verwahrloste Schule.
Es wird ihm schwer, sich in dem Dorfe innerlich wohl und stark zu fühlen, und
in dem gewählten Berufe heimisch zu werdeu. Der kleine Egoismus der Bauern,
die Rohheit der Kinder kränken und verletzen ihn vielfach; er erkennt, daß es
nicht so leicht ist, das praktisch durchzuführen, was man in der Theorie schnell
fertig hat. Seine gefährliche Situation als Flüchtling wird noch dadurch vermehrt,
daß ein gelehrter Liedersammler aus der Stadt sich als Spion in der Gegeud herum¬
treibt, daß die Baronin Stephanie als Versucherin ihn festhält, und unter Anderem
verführt, mit falschem Namen als Edelmann in einer Schloßgesellschaft aufzu¬
treten, daß die Bauern ihn bewegen, als ^Anführer einer Dorsdepntation nach
derselben Residenz zu reisen, wo sein Schicksal entschieden wird, daß er in den
Zeitungen die Publication seines Todesurtheils liest, daß seine Bemühungen,
Spuren seiner Mutter aufzufinden, vergeblich sind, und daß er täglich in Gefahr
ist, durch die Ankunft eines Bekannten von sich oder von dem frühern Besitzer
seines Namens entdeckt zu werden. Während er diese Verhältnisse und Empfin¬
dungen bei sich verarbeitet, erwächst in seiner Seele die Neigung zu dem Mädchen in
der Bachmuhle, der jungfräulichen und starken Victore. Gelegentliche Besuche seines
Freundes Dreeger, und eines Stiftsfräuleins Theorosa, welche die Beschützerin
des nach Amerika Geschickten ist, und der er sich entdeckt, beschäftigen ihn dazwischen,
bis es endlich den Bemühungen der Baronin Stephanie, welche dnrch seinen Kame¬
raden Barthelmä von seinem Stand und Namen unterrichtet wird, gelingt, ihm
bei Hose Amnestie zu verschaffen. Als Beguadigter muß er seiue Schullehrer-
stelle ausgebe", bleibt aber in der Gemeinde, erkennt in der Bachmüllerin seine
Mutter, das frühere Hoffräulein, und heirathet die Stieftochter derselben, Victore.
Sein Tanschfreund, der wirkliche, kleine Schulmeister, kommt aus Amerika zurück,
heirathet das Stiftssräuleiu Theorosa, und geht wieder über die See. Sein
Kamerad Barthelmä aber geht während seiner Anwesenheit im Dorfe nnter; er
erhängt mit einer wilden Bande den Spion, den Liedersammler, und tödtet dann
sich selbst.

Die Grundlage der ganzen Handlung aber ist: Ein edler Schwärmer wird
Dorfschullehrer, um seiue Ueberzeugung durchzuführen, daß es gegenwärtig Pflicht
des Gebildeten in Deutschland sei, sein Leben der Erziehung des Volks in
kleinem Kreise zu widmen. Bei solchem Thema wird die Ausgabe des Dichters
sein, mit der größten Konsequenz diese -- schwer darstellbare -- Idee festzu¬
halten, sämmtliche Erfahrungen, welche der Idealist bei Ausführung dieser Idee


Grenzl'oder. I. 13

Dorfe an. Dort wird er mit Vorurtheilen empfangen, die er bald zu besiegen weiß,
lernt wieder eine Anzahl seltsamer und tüchtiger Menschen kennen, einen liberalen
Edelmann, Krvuauer, einen Dvrfdemagogen, frühern Schullehrer Kaidl, einen
Knecht Barthelmä, der ein verdorbener Student und Kriegskamerad Engeus im
Aufstände ist, nud unter den Dorflenteu die Familie deö Bachmüllers, Manu,
Frau nud eine Tochter, prächtige Leute. Er übernimmt seine verwahrloste Schule.
Es wird ihm schwer, sich in dem Dorfe innerlich wohl und stark zu fühlen, und
in dem gewählten Berufe heimisch zu werdeu. Der kleine Egoismus der Bauern,
die Rohheit der Kinder kränken und verletzen ihn vielfach; er erkennt, daß es
nicht so leicht ist, das praktisch durchzuführen, was man in der Theorie schnell
fertig hat. Seine gefährliche Situation als Flüchtling wird noch dadurch vermehrt,
daß ein gelehrter Liedersammler aus der Stadt sich als Spion in der Gegeud herum¬
treibt, daß die Baronin Stephanie als Versucherin ihn festhält, und unter Anderem
verführt, mit falschem Namen als Edelmann in einer Schloßgesellschaft aufzu¬
treten, daß die Bauern ihn bewegen, als ^Anführer einer Dorsdepntation nach
derselben Residenz zu reisen, wo sein Schicksal entschieden wird, daß er in den
Zeitungen die Publication seines Todesurtheils liest, daß seine Bemühungen,
Spuren seiner Mutter aufzufinden, vergeblich sind, und daß er täglich in Gefahr
ist, durch die Ankunft eines Bekannten von sich oder von dem frühern Besitzer
seines Namens entdeckt zu werden. Während er diese Verhältnisse und Empfin¬
dungen bei sich verarbeitet, erwächst in seiner Seele die Neigung zu dem Mädchen in
der Bachmuhle, der jungfräulichen und starken Victore. Gelegentliche Besuche seines
Freundes Dreeger, und eines Stiftsfräuleins Theorosa, welche die Beschützerin
des nach Amerika Geschickten ist, und der er sich entdeckt, beschäftigen ihn dazwischen,
bis es endlich den Bemühungen der Baronin Stephanie, welche dnrch seinen Kame¬
raden Barthelmä von seinem Stand und Namen unterrichtet wird, gelingt, ihm
bei Hose Amnestie zu verschaffen. Als Beguadigter muß er seiue Schullehrer-
stelle ausgebe», bleibt aber in der Gemeinde, erkennt in der Bachmüllerin seine
Mutter, das frühere Hoffräulein, und heirathet die Stieftochter derselben, Victore.
Sein Tanschfreund, der wirkliche, kleine Schulmeister, kommt aus Amerika zurück,
heirathet das Stiftssräuleiu Theorosa, und geht wieder über die See. Sein
Kamerad Barthelmä aber geht während seiner Anwesenheit im Dorfe nnter; er
erhängt mit einer wilden Bande den Spion, den Liedersammler, und tödtet dann
sich selbst.

Die Grundlage der ganzen Handlung aber ist: Ein edler Schwärmer wird
Dorfschullehrer, um seiue Ueberzeugung durchzuführen, daß es gegenwärtig Pflicht
des Gebildeten in Deutschland sei, sein Leben der Erziehung des Volks in
kleinem Kreise zu widmen. Bei solchem Thema wird die Ausgabe des Dichters
sein, mit der größten Konsequenz diese — schwer darstellbare — Idee festzu¬
halten, sämmtliche Erfahrungen, welche der Idealist bei Ausführung dieser Idee


Grenzl'oder. I. 13
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[0107] Dorfe an. Dort wird er mit Vorurtheilen empfangen, die er bald zu besiegen weiß, lernt wieder eine Anzahl seltsamer und tüchtiger Menschen kennen, einen liberalen Edelmann, Krvuauer, einen Dvrfdemagogen, frühern Schullehrer Kaidl, einen Knecht Barthelmä, der ein verdorbener Student und Kriegskamerad Engeus im Aufstände ist, nud unter den Dorflenteu die Familie deö Bachmüllers, Manu, Frau nud eine Tochter, prächtige Leute. Er übernimmt seine verwahrloste Schule. Es wird ihm schwer, sich in dem Dorfe innerlich wohl und stark zu fühlen, und in dem gewählten Berufe heimisch zu werdeu. Der kleine Egoismus der Bauern, die Rohheit der Kinder kränken und verletzen ihn vielfach; er erkennt, daß es nicht so leicht ist, das praktisch durchzuführen, was man in der Theorie schnell fertig hat. Seine gefährliche Situation als Flüchtling wird noch dadurch vermehrt, daß ein gelehrter Liedersammler aus der Stadt sich als Spion in der Gegeud herum¬ treibt, daß die Baronin Stephanie als Versucherin ihn festhält, und unter Anderem verführt, mit falschem Namen als Edelmann in einer Schloßgesellschaft aufzu¬ treten, daß die Bauern ihn bewegen, als ^Anführer einer Dorsdepntation nach derselben Residenz zu reisen, wo sein Schicksal entschieden wird, daß er in den Zeitungen die Publication seines Todesurtheils liest, daß seine Bemühungen, Spuren seiner Mutter aufzufinden, vergeblich sind, und daß er täglich in Gefahr ist, durch die Ankunft eines Bekannten von sich oder von dem frühern Besitzer seines Namens entdeckt zu werden. Während er diese Verhältnisse und Empfin¬ dungen bei sich verarbeitet, erwächst in seiner Seele die Neigung zu dem Mädchen in der Bachmuhle, der jungfräulichen und starken Victore. Gelegentliche Besuche seines Freundes Dreeger, und eines Stiftsfräuleins Theorosa, welche die Beschützerin des nach Amerika Geschickten ist, und der er sich entdeckt, beschäftigen ihn dazwischen, bis es endlich den Bemühungen der Baronin Stephanie, welche dnrch seinen Kame¬ raden Barthelmä von seinem Stand und Namen unterrichtet wird, gelingt, ihm bei Hose Amnestie zu verschaffen. Als Beguadigter muß er seiue Schullehrer- stelle ausgebe», bleibt aber in der Gemeinde, erkennt in der Bachmüllerin seine Mutter, das frühere Hoffräulein, und heirathet die Stieftochter derselben, Victore. Sein Tanschfreund, der wirkliche, kleine Schulmeister, kommt aus Amerika zurück, heirathet das Stiftssräuleiu Theorosa, und geht wieder über die See. Sein Kamerad Barthelmä aber geht während seiner Anwesenheit im Dorfe nnter; er erhängt mit einer wilden Bande den Spion, den Liedersammler, und tödtet dann sich selbst. Die Grundlage der ganzen Handlung aber ist: Ein edler Schwärmer wird Dorfschullehrer, um seiue Ueberzeugung durchzuführen, daß es gegenwärtig Pflicht des Gebildeten in Deutschland sei, sein Leben der Erziehung des Volks in kleinem Kreise zu widmen. Bei solchem Thema wird die Ausgabe des Dichters sein, mit der größten Konsequenz diese — schwer darstellbare — Idee festzu¬ halten, sämmtliche Erfahrungen, welche der Idealist bei Ausführung dieser Idee Grenzl'oder. I. 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/107>, abgerufen am 06.06.2024.