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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Mehr." --/So spricht nur ein übermüthiger Demagog! -- Und derselbe Mann, wel¬
cher sich in der bescheidenen Thätigkeit eines Dorfschullchrers zu verbergen so nöthig
hat, läßt sich von einer excentrischen, adeligen Dame verleiten, nnter falschem Na¬
men als Edelmann in einer aristokratischen Gesellschaft aufzutreten, und liberale
Grundsätze zu verfechten, ja er reist sogar als Deputirter seiner Bauerngemeinde
mit nach der Residenz, und sollicitirt um eine Audienz beim Landesherrn. Und
der das Alles thut, ist kein tollkühner Wagehals, sondern ein sinniger, viel reflec-
tirender, sich Alles zurechtlegender Mensch. Das Schlimmste aber ist, daß er anch
wieder nicht ans reinem Idealismus sich uuter so kritischen Verhältnissen zum
Schullehrer macht, souderu nebenbei, um eine verlorene Mutter zu suchen, die er
nie gekannt hat, nach deren Bekanntschaft er aber ein leidenschaftliches Verlangen
trägt. Wie er dazu kommt, sie noch uuter den Lebenden, und gerade auf dem
Schauplatz der Handlung zu hoffen, erfährt mau uicht recht. Die ganze Sehn-
sucht mich der Mutter hat aber für deu Mann in seiner Lage, geradezu gesagt,
etwas Komisches, zumal er am wenigsten befähigt ist, sich vom Platze zu bewegen
und Untersuchungen anzustellen. Er thut dies auch nicht ernsthaft, denn was er
durch eine Zigeunerin und seiue Bekannten von einem Dritten zu erforschen sucht,
führt uur auf falsche spüre", ist also für deu Roman zwecklos. Dieses ganze
Suchen der Mutter ist aber auch sonst ein großer Fehler. Es ist im Kunst¬
werk unmöglich, ans solche Weife zwei vollständig verschiedene Motive einer That
neben einander zu stellen, denn sie verstärken einander nicht, wie der Verfasser
gehofft hat, sondern vernichten einander. Wie tonnen wir an die Macht des
schwärmerischen Idealismus glauben, welcher den Helden zum Dorfschulmeister
macht, wenn wir daran denken müssen, daß er eigentlich das Alles thut, seiue
Mutter zu finden; und wie können wir an die energischen Forschungen nach seiner
Mutter glauben, wenn wir ihn nnr gelegentlich etwas -- sehr Ungeschicktes ---
thun sehen, sie von seiner Dorfschule aus zu erforschen?

Charakteristisch aber ist, daß in dem Vagabunden vou Holtei der Hauptheld
ganz ähnliche Personalien hat. Unehelicher Sohn eines vornehmen Aristokraten
Mit aristokratischem Anstand und deu körperlichen und geistigen Vorzügen, welche
herkömmlicher Weise in Romanen ein vornehmer Vater verleiht, dabei doch ein
Manu des Volkes und voll Verlange", die Mutter zu finde". Aber bei Holtei
ist dieser ganze Aufputz des Helden viel weniger unangenehm, weil die ganze
Geschichte viel leichter gehalten ist. Haben wir deshalb das Jahr 18.58 erlebt,
damit unsre Dichter im Jahre 18S2 die illegitimen, aber sentimentalen Grafeu-
kinder herumlaufen lassen, ihre verlorenen Mütter zu suchen?

Das Gesagte wird hinreichen, um die Mängel in der Anlage Auerbachs anzu¬
deuten. Er ist Sclave der einzelnen Situationen, welche ihm als Einfälle in die
Seele kommen und sein warmes Gefühl erregen, und deshalb ist er häufig nicht


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Mehr." —/So spricht nur ein übermüthiger Demagog! — Und derselbe Mann, wel¬
cher sich in der bescheidenen Thätigkeit eines Dorfschullchrers zu verbergen so nöthig
hat, läßt sich von einer excentrischen, adeligen Dame verleiten, nnter falschem Na¬
men als Edelmann in einer aristokratischen Gesellschaft aufzutreten, und liberale
Grundsätze zu verfechten, ja er reist sogar als Deputirter seiner Bauerngemeinde
mit nach der Residenz, und sollicitirt um eine Audienz beim Landesherrn. Und
der das Alles thut, ist kein tollkühner Wagehals, sondern ein sinniger, viel reflec-
tirender, sich Alles zurechtlegender Mensch. Das Schlimmste aber ist, daß er anch
wieder nicht ans reinem Idealismus sich uuter so kritischen Verhältnissen zum
Schullehrer macht, souderu nebenbei, um eine verlorene Mutter zu suchen, die er
nie gekannt hat, nach deren Bekanntschaft er aber ein leidenschaftliches Verlangen
trägt. Wie er dazu kommt, sie noch uuter den Lebenden, und gerade auf dem
Schauplatz der Handlung zu hoffen, erfährt mau uicht recht. Die ganze Sehn-
sucht mich der Mutter hat aber für deu Mann in seiner Lage, geradezu gesagt,
etwas Komisches, zumal er am wenigsten befähigt ist, sich vom Platze zu bewegen
und Untersuchungen anzustellen. Er thut dies auch nicht ernsthaft, denn was er
durch eine Zigeunerin und seiue Bekannten von einem Dritten zu erforschen sucht,
führt uur auf falsche spüre», ist also für deu Roman zwecklos. Dieses ganze
Suchen der Mutter ist aber auch sonst ein großer Fehler. Es ist im Kunst¬
werk unmöglich, ans solche Weife zwei vollständig verschiedene Motive einer That
neben einander zu stellen, denn sie verstärken einander nicht, wie der Verfasser
gehofft hat, sondern vernichten einander. Wie tonnen wir an die Macht des
schwärmerischen Idealismus glauben, welcher den Helden zum Dorfschulmeister
macht, wenn wir daran denken müssen, daß er eigentlich das Alles thut, seiue
Mutter zu finden; und wie können wir an die energischen Forschungen nach seiner
Mutter glauben, wenn wir ihn nnr gelegentlich etwas — sehr Ungeschicktes —-
thun sehen, sie von seiner Dorfschule aus zu erforschen?

Charakteristisch aber ist, daß in dem Vagabunden vou Holtei der Hauptheld
ganz ähnliche Personalien hat. Unehelicher Sohn eines vornehmen Aristokraten
Mit aristokratischem Anstand und deu körperlichen und geistigen Vorzügen, welche
herkömmlicher Weise in Romanen ein vornehmer Vater verleiht, dabei doch ein
Manu des Volkes und voll Verlange», die Mutter zu finde«. Aber bei Holtei
ist dieser ganze Aufputz des Helden viel weniger unangenehm, weil die ganze
Geschichte viel leichter gehalten ist. Haben wir deshalb das Jahr 18.58 erlebt,
damit unsre Dichter im Jahre 18S2 die illegitimen, aber sentimentalen Grafeu-
kinder herumlaufen lassen, ihre verlorenen Mütter zu suchen?

Das Gesagte wird hinreichen, um die Mängel in der Anlage Auerbachs anzu¬
deuten. Er ist Sclave der einzelnen Situationen, welche ihm als Einfälle in die
Seele kommen und sein warmes Gefühl erregen, und deshalb ist er häufig nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/109>, abgerufen am 16.06.2024.