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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Das Trauerspiel "die Cenci" (1819) behandelt den bekannten Stoff, der auch
Prosper Mariane zu einem seiner wilden Dramen (die Familie Carvajal) Ver¬
anlassung gegeben hat. Ein Bösewicht thut seiner Tochter Gewalt an, wird
deshalb von ihr ermordet, und die Mörderin, obgleich allgemein bedauert und
zum Theil bewundert, fällt der menschlichen Gerechtigkeit anheim. Es ist schwer
zu sagen, wie diese monströse Geschichte, die selbst innerhalb der Criminalprocesse
kaum ihres Gleichen hat, und die als eine Abnormität der menschlichen Natur
widerspricht, einen Dichter reizen kann. Shelley scheint die Absicht gehabt zu
haben, die Zeit, in der eine solche That möglich war, als eine Totalität des
unsittlichen Wesens darzustellen. Fast alle Personen des Stücks, mit Ausnahme
der Heldin Beatrice, sind entweder elende Schwächlinge oder Bösewichter. Selbst
die anscheinende Theilnahme einzelner Freunde all dem Geschick der unglücklichen
Familie beruht auf dem unwürdigsten Egoismus, und diejenige Macht, welche
die aus den Fugen gerückte Welt wieder in Ordnung bringen sollte, das Ober¬
haupt des Staats, der Papst, hat kein Recht, sich auch nnr als Vertreter des
einseitigen positiven Gesetzes zu geberden, denn er läßt sich von dem alten
Cenci,, der jährlich ein Dutzend neue Mordthaten begeht, die Amnestie für
schweres Geld abkaufen. Bei dieser Allgemeinheit verworfener Gesinnungen
und Thaten ist es ganz unmöglich, für die That der Beatrice, in welcher aller¬
dings ein sittlicher Conflict vorhanden ist, irgend einen sittlichen Maßstab festzu¬
stellen. Wenn in einer Mördergrube die unnatürlichsten Verbrechen begangen
werden, so ist daraus nichts Poetisches zu machen, denn die Poesie setzt ein
Wissen der sittlichen Bestimmungen voraus; ohne dieses ist sie sogar unfähig,
richtig zu charakterisiren. Ja man wird in unsrem Stück zu der Frage gedrängt:
Woher kommt der sittliche Schreck Beatrice's über das unnatürliche Attentat ihres
Vaters? In dieser Hölle, wo alle Laster gemeinschaftlich ihre Bacchanalien feiern,
sollte man über etwas Blutschande kaum erschrecken.

Am ausführlichsten ist der Charakter des alten Cenci geschildert. Es ist
ein Fanatismus und ein Wahnsinn de,r Bosheit, wie ihn selbst die Phantasie
eines Hoffmann nicht hätte erfinden können. Er fällt überall mit der Thür ins
Hans. An eine Vermittlung seiner Greuel mit den gewöhnlichen Vorstellungen
vom menschlichen Wesen ist nicht zu denken. Gleich in einer der ersten Scenen
giebt er ein.glänzendes Fest, um den Tod zweier Söhne zu feiern. Er dankt
Gott mit großer Rührung, daß er sein Gebet in dieser Beziehung erhört hat,
und wünscht, daß der rothe Wein, den er trinkt, das Blut seiner Söhne wäre;
er würde ihm daun noch viel besser schmecken. Diese löblichen Gesinnungen spricht
er ganz laut in der Gesellschaft aus, nud als einige vou den Gästen daran An¬
stoß nehmen, empfiehlt er ihnen stillzuschweigen, weil er ihnen sonst die Gurgel
würde abschneiden lassen, wie er schon mit vielen Anderen gethan. Er ist sehr
unzufrieden mit dem Papst, dessen Verzeihungen ihm zu viel Geld kosten. Der


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Das Trauerspiel „die Cenci" (1819) behandelt den bekannten Stoff, der auch
Prosper Mariane zu einem seiner wilden Dramen (die Familie Carvajal) Ver¬
anlassung gegeben hat. Ein Bösewicht thut seiner Tochter Gewalt an, wird
deshalb von ihr ermordet, und die Mörderin, obgleich allgemein bedauert und
zum Theil bewundert, fällt der menschlichen Gerechtigkeit anheim. Es ist schwer
zu sagen, wie diese monströse Geschichte, die selbst innerhalb der Criminalprocesse
kaum ihres Gleichen hat, und die als eine Abnormität der menschlichen Natur
widerspricht, einen Dichter reizen kann. Shelley scheint die Absicht gehabt zu
haben, die Zeit, in der eine solche That möglich war, als eine Totalität des
unsittlichen Wesens darzustellen. Fast alle Personen des Stücks, mit Ausnahme
der Heldin Beatrice, sind entweder elende Schwächlinge oder Bösewichter. Selbst
die anscheinende Theilnahme einzelner Freunde all dem Geschick der unglücklichen
Familie beruht auf dem unwürdigsten Egoismus, und diejenige Macht, welche
die aus den Fugen gerückte Welt wieder in Ordnung bringen sollte, das Ober¬
haupt des Staats, der Papst, hat kein Recht, sich auch nnr als Vertreter des
einseitigen positiven Gesetzes zu geberden, denn er läßt sich von dem alten
Cenci,, der jährlich ein Dutzend neue Mordthaten begeht, die Amnestie für
schweres Geld abkaufen. Bei dieser Allgemeinheit verworfener Gesinnungen
und Thaten ist es ganz unmöglich, für die That der Beatrice, in welcher aller¬
dings ein sittlicher Conflict vorhanden ist, irgend einen sittlichen Maßstab festzu¬
stellen. Wenn in einer Mördergrube die unnatürlichsten Verbrechen begangen
werden, so ist daraus nichts Poetisches zu machen, denn die Poesie setzt ein
Wissen der sittlichen Bestimmungen voraus; ohne dieses ist sie sogar unfähig,
richtig zu charakterisiren. Ja man wird in unsrem Stück zu der Frage gedrängt:
Woher kommt der sittliche Schreck Beatrice's über das unnatürliche Attentat ihres
Vaters? In dieser Hölle, wo alle Laster gemeinschaftlich ihre Bacchanalien feiern,
sollte man über etwas Blutschande kaum erschrecken.

Am ausführlichsten ist der Charakter des alten Cenci geschildert. Es ist
ein Fanatismus und ein Wahnsinn de,r Bosheit, wie ihn selbst die Phantasie
eines Hoffmann nicht hätte erfinden können. Er fällt überall mit der Thür ins
Hans. An eine Vermittlung seiner Greuel mit den gewöhnlichen Vorstellungen
vom menschlichen Wesen ist nicht zu denken. Gleich in einer der ersten Scenen
giebt er ein.glänzendes Fest, um den Tod zweier Söhne zu feiern. Er dankt
Gott mit großer Rührung, daß er sein Gebet in dieser Beziehung erhört hat,
und wünscht, daß der rothe Wein, den er trinkt, das Blut seiner Söhne wäre;
er würde ihm daun noch viel besser schmecken. Diese löblichen Gesinnungen spricht
er ganz laut in der Gesellschaft aus, nud als einige vou den Gästen daran An¬
stoß nehmen, empfiehlt er ihnen stillzuschweigen, weil er ihnen sonst die Gurgel
würde abschneiden lassen, wie er schon mit vielen Anderen gethan. Er ist sehr
unzufrieden mit dem Papst, dessen Verzeihungen ihm zu viel Geld kosten. Der


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[0173] Das Trauerspiel „die Cenci" (1819) behandelt den bekannten Stoff, der auch Prosper Mariane zu einem seiner wilden Dramen (die Familie Carvajal) Ver¬ anlassung gegeben hat. Ein Bösewicht thut seiner Tochter Gewalt an, wird deshalb von ihr ermordet, und die Mörderin, obgleich allgemein bedauert und zum Theil bewundert, fällt der menschlichen Gerechtigkeit anheim. Es ist schwer zu sagen, wie diese monströse Geschichte, die selbst innerhalb der Criminalprocesse kaum ihres Gleichen hat, und die als eine Abnormität der menschlichen Natur widerspricht, einen Dichter reizen kann. Shelley scheint die Absicht gehabt zu haben, die Zeit, in der eine solche That möglich war, als eine Totalität des unsittlichen Wesens darzustellen. Fast alle Personen des Stücks, mit Ausnahme der Heldin Beatrice, sind entweder elende Schwächlinge oder Bösewichter. Selbst die anscheinende Theilnahme einzelner Freunde all dem Geschick der unglücklichen Familie beruht auf dem unwürdigsten Egoismus, und diejenige Macht, welche die aus den Fugen gerückte Welt wieder in Ordnung bringen sollte, das Ober¬ haupt des Staats, der Papst, hat kein Recht, sich auch nnr als Vertreter des einseitigen positiven Gesetzes zu geberden, denn er läßt sich von dem alten Cenci,, der jährlich ein Dutzend neue Mordthaten begeht, die Amnestie für schweres Geld abkaufen. Bei dieser Allgemeinheit verworfener Gesinnungen und Thaten ist es ganz unmöglich, für die That der Beatrice, in welcher aller¬ dings ein sittlicher Conflict vorhanden ist, irgend einen sittlichen Maßstab festzu¬ stellen. Wenn in einer Mördergrube die unnatürlichsten Verbrechen begangen werden, so ist daraus nichts Poetisches zu machen, denn die Poesie setzt ein Wissen der sittlichen Bestimmungen voraus; ohne dieses ist sie sogar unfähig, richtig zu charakterisiren. Ja man wird in unsrem Stück zu der Frage gedrängt: Woher kommt der sittliche Schreck Beatrice's über das unnatürliche Attentat ihres Vaters? In dieser Hölle, wo alle Laster gemeinschaftlich ihre Bacchanalien feiern, sollte man über etwas Blutschande kaum erschrecken. Am ausführlichsten ist der Charakter des alten Cenci geschildert. Es ist ein Fanatismus und ein Wahnsinn de,r Bosheit, wie ihn selbst die Phantasie eines Hoffmann nicht hätte erfinden können. Er fällt überall mit der Thür ins Hans. An eine Vermittlung seiner Greuel mit den gewöhnlichen Vorstellungen vom menschlichen Wesen ist nicht zu denken. Gleich in einer der ersten Scenen giebt er ein.glänzendes Fest, um den Tod zweier Söhne zu feiern. Er dankt Gott mit großer Rührung, daß er sein Gebet in dieser Beziehung erhört hat, und wünscht, daß der rothe Wein, den er trinkt, das Blut seiner Söhne wäre; er würde ihm daun noch viel besser schmecken. Diese löblichen Gesinnungen spricht er ganz laut in der Gesellschaft aus, nud als einige vou den Gästen daran An¬ stoß nehmen, empfiehlt er ihnen stillzuschweigen, weil er ihnen sonst die Gurgel würde abschneiden lassen, wie er schon mit vielen Anderen gethan. Er ist sehr unzufrieden mit dem Papst, dessen Verzeihungen ihm zu viel Geld kosten. Der 21 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/173>, abgerufen am 06.06.2024.