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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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stehend, ja es sieht sie kaum als Christen an, wie das Sprichwort: "Unsere
Bischöfe sind Türken" scharf genug ausdrückt. Daß man den Wladyka von Mon¬
tenegro als religiöses und politisches Oberhaupt seines Volkes nicht in die Kategorie
der übrigen Bischöfe einreiht, bedarf kaum der Erwähnung.

Das Volk faßt d^le Kirche noch hente im Sinne der alten tzcclesia als
religiöse Gemeinschaft der Station anf.

Man würde sehr irren, wenn man die dogmatischen Werke der griechischen
Kirche auch als religiösen Kanon der slavischen Kirche ansehen wollte. Viele
Spuren der alten heidnischen Naturreligion haben sich noch heute erhalten und
mit dem neuern Christenthums organisch verschmolzen. Heute noch ist die er¬
scheinende Natur dem Volke Nicht ein Product, sondern eine Lebensäuße¬
rung des höchsten Wesens, und einzelne merkwürdige Erscheinungen des wieder¬
kehrenden Jahres sind christliche Feste geworden, deren Feier aber, wie die des
Weihnachtsabends, des Georgs- und Johannistages, Herrn Hengstenberg und
seine Freunde schwerlich erbauen würde.

Hier giebt es keine Ascetik, keine "christliche Selbstentäußerung ", keine
Mystiker, keine Jongleurs, keine übermenschlichen Heiligen; die Heiligen, die
man feiert, siud nicht kcmonisirt, sie sind Menschen wie die heutigen, nur durch
die Volkspoesie verklärt, es sind, entschlafene Hausfreunde, deren Andenken
man in der Familie erhalten will. Cäsar, der letzte Serbenzar, Milosch Obi-
litsch der Sänger-Held, Iwo Zrnojewitsch der Ahnherr der Zrnogorer, gelten
beim Volke für eben so gute Heilige, als der heilige Nikola, Jowan, oder Jlija.
Wer für das Kreuz gegen deu Halbmond fiel, hat deu legalsten Anspruch auf
den Heiligen-Titel. So haben sich anch im Volke echt nationale Taufnamen er¬
halten; Stojan, Milosch, Bogdan, Miliwoj, Milorad u. a. siud eben so ortho¬
doxe Namen, als jene der Apostel.

Nicht minder mußten sich die Ceremonien -- sonst ein bedeutender Theil
des orientalischen Kirchenwesens -- den Umständen anbequemen, und erscheinen
in manchen Gegenden sogar ans ein bedenkliches Minimum reducirt. Hier nur
ein Beispiel. In einem kleinen Grenzbezirke an der böhmischen Grenze, der vor
einigen Jahrzehenden, wie es scheint, ohne alle diplomatische Unterhandlungen
an die Militairgrenze gekommen ist, sind die meisten älteren Leute gar nicht ge¬
tauft, da es in dieser Gegend zur Türkenzeit keine serbischen Priester gegeben
hat. Man befragte einige dieser Leute darüber, und wollte die Ceremonie nach¬
träglich vornehmen; sie lehnten es jedoch auf'S Entschiedenste ab und sagten:
"Unsre Väter und Großväter waren auch nicht getauft und waren doch gute
Krist^ani -- warum sollten wir uns in unsrer alten Tagen laufen lassen? Wer¬
den wir dadurch bessere Christen, als wir jetzt sind? Wir ließen unsre Kinder
taufen, weil es das Gesetz so will und wir es thun mußten, aber wir sehen
nicht, daß sie bessere Christen seien als wir." Man ließ die alten Heiden ge-


Grenzboten. l. -I8L2. ' 62

stehend, ja es sieht sie kaum als Christen an, wie das Sprichwort: „Unsere
Bischöfe sind Türken" scharf genug ausdrückt. Daß man den Wladyka von Mon¬
tenegro als religiöses und politisches Oberhaupt seines Volkes nicht in die Kategorie
der übrigen Bischöfe einreiht, bedarf kaum der Erwähnung.

Das Volk faßt d^le Kirche noch hente im Sinne der alten tzcclesia als
religiöse Gemeinschaft der Station anf.

Man würde sehr irren, wenn man die dogmatischen Werke der griechischen
Kirche auch als religiösen Kanon der slavischen Kirche ansehen wollte. Viele
Spuren der alten heidnischen Naturreligion haben sich noch heute erhalten und
mit dem neuern Christenthums organisch verschmolzen. Heute noch ist die er¬
scheinende Natur dem Volke Nicht ein Product, sondern eine Lebensäuße¬
rung des höchsten Wesens, und einzelne merkwürdige Erscheinungen des wieder¬
kehrenden Jahres sind christliche Feste geworden, deren Feier aber, wie die des
Weihnachtsabends, des Georgs- und Johannistages, Herrn Hengstenberg und
seine Freunde schwerlich erbauen würde.

Hier giebt es keine Ascetik, keine „christliche Selbstentäußerung ", keine
Mystiker, keine Jongleurs, keine übermenschlichen Heiligen; die Heiligen, die
man feiert, siud nicht kcmonisirt, sie sind Menschen wie die heutigen, nur durch
die Volkspoesie verklärt, es sind, entschlafene Hausfreunde, deren Andenken
man in der Familie erhalten will. Cäsar, der letzte Serbenzar, Milosch Obi-
litsch der Sänger-Held, Iwo Zrnojewitsch der Ahnherr der Zrnogorer, gelten
beim Volke für eben so gute Heilige, als der heilige Nikola, Jowan, oder Jlija.
Wer für das Kreuz gegen deu Halbmond fiel, hat deu legalsten Anspruch auf
den Heiligen-Titel. So haben sich anch im Volke echt nationale Taufnamen er¬
halten; Stojan, Milosch, Bogdan, Miliwoj, Milorad u. a. siud eben so ortho¬
doxe Namen, als jene der Apostel.

Nicht minder mußten sich die Ceremonien — sonst ein bedeutender Theil
des orientalischen Kirchenwesens — den Umständen anbequemen, und erscheinen
in manchen Gegenden sogar ans ein bedenkliches Minimum reducirt. Hier nur
ein Beispiel. In einem kleinen Grenzbezirke an der böhmischen Grenze, der vor
einigen Jahrzehenden, wie es scheint, ohne alle diplomatische Unterhandlungen
an die Militairgrenze gekommen ist, sind die meisten älteren Leute gar nicht ge¬
tauft, da es in dieser Gegend zur Türkenzeit keine serbischen Priester gegeben
hat. Man befragte einige dieser Leute darüber, und wollte die Ceremonie nach¬
träglich vornehmen; sie lehnten es jedoch auf'S Entschiedenste ab und sagten:
„Unsre Väter und Großväter waren auch nicht getauft und waren doch gute
Krist^ani — warum sollten wir uns in unsrer alten Tagen laufen lassen? Wer¬
den wir dadurch bessere Christen, als wir jetzt sind? Wir ließen unsre Kinder
taufen, weil es das Gesetz so will und wir es thun mußten, aber wir sehen
nicht, daß sie bessere Christen seien als wir." Man ließ die alten Heiden ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/499>, abgerufen am 13.05.2024.