Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

"Ur. 92!" (einer der Reserven) ruft der Inspector, "sehen Sie, was da
zu thun ist. --"

Hat der Vermißte sich nicht bereits mit dem Gelde aus dem Staube gemacht,
so werden von diesem Augenblicke angefangen die Chancen seines Entwischens von
Minute zu Minute geringer. Ur. 92 ist auf dem Wege zu den Verwandten,
wo er sich vielleicht über Nacht eingemiethet hat, und ehe es Tag ist, hat auch
schon jeder Polizeiossicier im Dienst die "Route" in Händen, und liest sie seiner
Mannschaft vor: "Langer Hals, lichtes Haar, Brillen, brauner Rock, Hut mit
schmaler Krämpe" n. s. w.

Jetzt erscheint ein Policeman von der Division am Fenster, salutirt, giebt
ein Blatt ab, "Route, Sir!" und geht weiter. Und so kreuzen die "Routes"
die Nacht hindurch von einer Station zur andern, bis sie bei allen die Runde
gemacht haben. Die wichtigeren erscheinen noch überdies in der "Police Gazette,"
einem speciellen Polizeijournal, von einem der Offtcianten herausgegeben.

Ein gutgekleideter junger Mensch von etwa achtzehn Jahren kommt langsam
in die vordere Stube gegangen, und indem er seinen Kopf so nahe als möglich
an's Fenster vorbeugt, lispelt er in breitem schottischen Dialekt:

"Ich bin ganz hilflos. Bin von Schottland herübergekommen, um eiuen
gewissen Saunders M'Alpine aufzusuchen. Kann ihn nicht siudeu. Hab' meine
ganze Baarschaft verzehrt. Keinen lsgMün,^) w der Tasche. Ich bitte, Sir,
um ein Unterkommen für die Nacht, Sir."

"Reserve!"

"Sir!"

"Führt den Herrn hinüber und seht, daß er eine Nacht bekommt."
Der Policeman und der verschämte Snvplicant gehen mit einander aus
der Stube.

Da wälzt sich eine lärmende Gruppe durch die Hausthür herein. Voraus
eine untersetzte, bausbackige, rothwangige, offenbar sehr aufgeregte Fran; hinter
ihr drei weibliche Zeugen und zwei Policemen. Die Gruppe kommt rasch auf's
Fenster des Bureau zu. Aber wir sehen uus vergebens nach einem Delinquenten
um. Der ist so winzig, daß erst eine Bank geholt werden muß, um ihn -vor die
hochgelegene Wandöffuuug zu bringen. Ein bildschöner, klugausseheuder, brauner,
lockeuhaariger, schmutziger Knabe von ungefähr sieben -Jahren, der sich selbst
um zwei Jahre älter angiebt. Die untersetzte Dame räuspert sich und bringt
ihre Klage vor:

"Am vergangenen Sonntag, Sir (mit Ihrer Erlaubniß, Sir, ich halt' einen
Cigarr- und Schreibmaterialladen), schlägt das kleine garstige Ding da eine
meiner Gewölbschciben ein. Flugs schau' ich nach. Fehlt mir richtig ein Farben¬
kasten



*) Der vierte Theil eines Penny.

„Ur. 92!" (einer der Reserven) ruft der Inspector, „sehen Sie, was da
zu thun ist. —"

Hat der Vermißte sich nicht bereits mit dem Gelde aus dem Staube gemacht,
so werden von diesem Augenblicke angefangen die Chancen seines Entwischens von
Minute zu Minute geringer. Ur. 92 ist auf dem Wege zu den Verwandten,
wo er sich vielleicht über Nacht eingemiethet hat, und ehe es Tag ist, hat auch
schon jeder Polizeiossicier im Dienst die „Route" in Händen, und liest sie seiner
Mannschaft vor: „Langer Hals, lichtes Haar, Brillen, brauner Rock, Hut mit
schmaler Krämpe" n. s. w.

Jetzt erscheint ein Policeman von der Division am Fenster, salutirt, giebt
ein Blatt ab, „Route, Sir!" und geht weiter. Und so kreuzen die „Routes"
die Nacht hindurch von einer Station zur andern, bis sie bei allen die Runde
gemacht haben. Die wichtigeren erscheinen noch überdies in der „Police Gazette,"
einem speciellen Polizeijournal, von einem der Offtcianten herausgegeben.

Ein gutgekleideter junger Mensch von etwa achtzehn Jahren kommt langsam
in die vordere Stube gegangen, und indem er seinen Kopf so nahe als möglich
an's Fenster vorbeugt, lispelt er in breitem schottischen Dialekt:

„Ich bin ganz hilflos. Bin von Schottland herübergekommen, um eiuen
gewissen Saunders M'Alpine aufzusuchen. Kann ihn nicht siudeu. Hab' meine
ganze Baarschaft verzehrt. Keinen lsgMün,^) w der Tasche. Ich bitte, Sir,
um ein Unterkommen für die Nacht, Sir."

„Reserve!"

„Sir!"

„Führt den Herrn hinüber und seht, daß er eine Nacht bekommt."
Der Policeman und der verschämte Snvplicant gehen mit einander aus
der Stube.

Da wälzt sich eine lärmende Gruppe durch die Hausthür herein. Voraus
eine untersetzte, bausbackige, rothwangige, offenbar sehr aufgeregte Fran; hinter
ihr drei weibliche Zeugen und zwei Policemen. Die Gruppe kommt rasch auf's
Fenster des Bureau zu. Aber wir sehen uus vergebens nach einem Delinquenten
um. Der ist so winzig, daß erst eine Bank geholt werden muß, um ihn -vor die
hochgelegene Wandöffuuug zu bringen. Ein bildschöner, klugausseheuder, brauner,
lockeuhaariger, schmutziger Knabe von ungefähr sieben -Jahren, der sich selbst
um zwei Jahre älter angiebt. Die untersetzte Dame räuspert sich und bringt
ihre Klage vor:

„Am vergangenen Sonntag, Sir (mit Ihrer Erlaubniß, Sir, ich halt' einen
Cigarr- und Schreibmaterialladen), schlägt das kleine garstige Ding da eine
meiner Gewölbschciben ein. Flugs schau' ich nach. Fehlt mir richtig ein Farben¬
kasten



*) Der vierte Theil eines Penny.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0056" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93421"/>
          <p xml:id="ID_165"> &#x201E;Ur. 92!" (einer der Reserven) ruft der Inspector, &#x201E;sehen Sie, was da<lb/>
zu thun ist. &#x2014;"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_166"> Hat der Vermißte sich nicht bereits mit dem Gelde aus dem Staube gemacht,<lb/>
so werden von diesem Augenblicke angefangen die Chancen seines Entwischens von<lb/>
Minute zu Minute geringer. Ur. 92 ist auf dem Wege zu den Verwandten,<lb/>
wo er sich vielleicht über Nacht eingemiethet hat, und ehe es Tag ist, hat auch<lb/>
schon jeder Polizeiossicier im Dienst die &#x201E;Route" in Händen, und liest sie seiner<lb/>
Mannschaft vor: &#x201E;Langer Hals, lichtes Haar, Brillen, brauner Rock, Hut mit<lb/>
schmaler Krämpe" n. s. w.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_167"> Jetzt erscheint ein Policeman von der Division am Fenster, salutirt, giebt<lb/>
ein Blatt ab, &#x201E;Route, Sir!" und geht weiter. Und so kreuzen die &#x201E;Routes"<lb/>
die Nacht hindurch von einer Station zur andern, bis sie bei allen die Runde<lb/>
gemacht haben. Die wichtigeren erscheinen noch überdies in der &#x201E;Police Gazette,"<lb/>
einem speciellen Polizeijournal, von einem der Offtcianten herausgegeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_168"> Ein gutgekleideter junger Mensch von etwa achtzehn Jahren kommt langsam<lb/>
in die vordere Stube gegangen, und indem er seinen Kopf so nahe als möglich<lb/>
an's Fenster vorbeugt, lispelt er in breitem schottischen Dialekt:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_169"> &#x201E;Ich bin ganz hilflos. Bin von Schottland herübergekommen, um eiuen<lb/>
gewissen Saunders M'Alpine aufzusuchen. Kann ihn nicht siudeu. Hab' meine<lb/>
ganze Baarschaft verzehrt. Keinen lsgMün,^) w der Tasche. Ich bitte, Sir,<lb/>
um ein Unterkommen für die Nacht, Sir."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_170"> &#x201E;Reserve!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_171"> &#x201E;Sir!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_172"> &#x201E;Führt den Herrn hinüber und seht, daß er eine Nacht bekommt."<lb/>
Der Policeman und der verschämte Snvplicant gehen mit einander aus<lb/>
der Stube.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_173"> Da wälzt sich eine lärmende Gruppe durch die Hausthür herein. Voraus<lb/>
eine untersetzte, bausbackige, rothwangige, offenbar sehr aufgeregte Fran; hinter<lb/>
ihr drei weibliche Zeugen und zwei Policemen. Die Gruppe kommt rasch auf's<lb/>
Fenster des Bureau zu. Aber wir sehen uus vergebens nach einem Delinquenten<lb/>
um. Der ist so winzig, daß erst eine Bank geholt werden muß, um ihn -vor die<lb/>
hochgelegene Wandöffuuug zu bringen. Ein bildschöner, klugausseheuder, brauner,<lb/>
lockeuhaariger, schmutziger Knabe von ungefähr sieben -Jahren, der sich selbst<lb/>
um zwei Jahre älter angiebt. Die untersetzte Dame räuspert sich und bringt<lb/>
ihre Klage vor:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_174"> &#x201E;Am vergangenen Sonntag, Sir (mit Ihrer Erlaubniß, Sir, ich halt' einen<lb/>
Cigarr- und Schreibmaterialladen), schlägt das kleine garstige Ding da eine<lb/>
meiner Gewölbschciben ein. Flugs schau' ich nach. Fehlt mir richtig ein Farben¬<lb/>
kasten</p><lb/>
          <note xml:id="FID_7" place="foot"> *) Der vierte Theil eines Penny.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0056] „Ur. 92!" (einer der Reserven) ruft der Inspector, „sehen Sie, was da zu thun ist. —" Hat der Vermißte sich nicht bereits mit dem Gelde aus dem Staube gemacht, so werden von diesem Augenblicke angefangen die Chancen seines Entwischens von Minute zu Minute geringer. Ur. 92 ist auf dem Wege zu den Verwandten, wo er sich vielleicht über Nacht eingemiethet hat, und ehe es Tag ist, hat auch schon jeder Polizeiossicier im Dienst die „Route" in Händen, und liest sie seiner Mannschaft vor: „Langer Hals, lichtes Haar, Brillen, brauner Rock, Hut mit schmaler Krämpe" n. s. w. Jetzt erscheint ein Policeman von der Division am Fenster, salutirt, giebt ein Blatt ab, „Route, Sir!" und geht weiter. Und so kreuzen die „Routes" die Nacht hindurch von einer Station zur andern, bis sie bei allen die Runde gemacht haben. Die wichtigeren erscheinen noch überdies in der „Police Gazette," einem speciellen Polizeijournal, von einem der Offtcianten herausgegeben. Ein gutgekleideter junger Mensch von etwa achtzehn Jahren kommt langsam in die vordere Stube gegangen, und indem er seinen Kopf so nahe als möglich an's Fenster vorbeugt, lispelt er in breitem schottischen Dialekt: „Ich bin ganz hilflos. Bin von Schottland herübergekommen, um eiuen gewissen Saunders M'Alpine aufzusuchen. Kann ihn nicht siudeu. Hab' meine ganze Baarschaft verzehrt. Keinen lsgMün,^) w der Tasche. Ich bitte, Sir, um ein Unterkommen für die Nacht, Sir." „Reserve!" „Sir!" „Führt den Herrn hinüber und seht, daß er eine Nacht bekommt." Der Policeman und der verschämte Snvplicant gehen mit einander aus der Stube. Da wälzt sich eine lärmende Gruppe durch die Hausthür herein. Voraus eine untersetzte, bausbackige, rothwangige, offenbar sehr aufgeregte Fran; hinter ihr drei weibliche Zeugen und zwei Policemen. Die Gruppe kommt rasch auf's Fenster des Bureau zu. Aber wir sehen uus vergebens nach einem Delinquenten um. Der ist so winzig, daß erst eine Bank geholt werden muß, um ihn -vor die hochgelegene Wandöffuuug zu bringen. Ein bildschöner, klugausseheuder, brauner, lockeuhaariger, schmutziger Knabe von ungefähr sieben -Jahren, der sich selbst um zwei Jahre älter angiebt. Die untersetzte Dame räuspert sich und bringt ihre Klage vor: „Am vergangenen Sonntag, Sir (mit Ihrer Erlaubniß, Sir, ich halt' einen Cigarr- und Schreibmaterialladen), schlägt das kleine garstige Ding da eine meiner Gewölbschciben ein. Flugs schau' ich nach. Fehlt mir richtig ein Farben¬ kasten *) Der vierte Theil eines Penny.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/56
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/56>, abgerufen am 11.05.2024.