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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Steno auf einen Tag zu entziehen. Zwei Freundinnen baten mich, sie nach Versailles
zu begleiten; wir wollten in dieser gemalten Geschichte Frankreichs blättern, und ans
der Vergangenheit Trost für die Zukunft schöpfen. Die ewige Kunst bleibt die
einzige Erhebung inmitten des allgemeinen Verfalls, dachten wir, und vielleicht
wenden wir uns nicht vergebens an ihren tröstenden Geist. Werden sie nun aber
die Kunst nicht auch in Belagerungszustand setzen? Wird die Reaction nicht diese
sprechenden Verheißungen ihres baldigen Endes unsren Augen entrücken wollen?
Fast scheint es so, die Censur, welche der Presse deu Maulkorb anlegt und dem
dramatischen Genius die Flügel stutzt, wird vor Michel Angelo nicht mehr Respect
haben. Wird es nöthig sein? Haben wir denn auch jenen ruhigen beschauenden
Sinn, welcher zum wirklichen Kunstgenüsse unerläßlich ist? Wenn unsre Seele
erbebt vor Erbitterung und Scham, wenn unsre Nerven erzittern unter der täg¬
lichen Erschütterung und Erniedrigung, sind ihre Eingänge, Auge und Ohr,
nicht verstellt, wie die Thore und Schranken dieses Landes von den Bayonetten
der siegenden Prätoriäner?

Sehen Sie nur Versailles an! Die Straßen leer, die Fenster geschlossen,
und hier und da erschallt der Pferdehuf einer dahinrennenden Ordonnanz, der
Tritt einer ab und zu gehenden Wache. Versailles ist eine große Caserne ge¬
worden, die Blüthe der buonapartistischen Schaaren, die Kürassiere und Cara-
biniers, haben hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen. Die abgeschnittenen Bäume mit
ihren Rococogestalten, die stummen Gebäude, die verkehrlose Welt, sie gemahnen
an den Tod, und die großen Placate an den Wänden scheinen uns von Blut
zu triefen, rothe Gespenster ziehen heulend durch die Luft, und sagen es uns ver¬
gebens, daß es ein kalter Herbstwind sei, der an unsrem Ohre vorüberbranst.
Treten wir in die Galerie. 'Wir suchen in dieser Sparbüchse des französischen
Ruhmes, wo die kleinste Berühmtheit, jede irgend bedeutende That sorgsam
niedergelegt wird, damit dem Capitale ja nichts entgehe, eine Berechtigung des
Helden der Tragikomödie, die jetzt im Elysve ^ abgespielt wird. Wir suchen die
Thaten der Mäuner, die sich vermessen haben, den persönlichen Ehrgeiz ihrer kleinen
Individualitäten für den Willen Frankreichs auszugeben. Wenden wir uns zu¬
nächst zur Verherrlichung der afrikanischen Großthaten,, durch die der Napoleon
des Friedens, Louis Philipp, der Anbetung seines Volkes für den Napoleon
des Krieges Rechnung getragen. Horace Vernet, der militairische Lebrun
des Bürgerkönigs, der jeden muthigen Chasseur, jedes tapfere Roß conterfeit,
kann nichts vergessen haben, er wird uns Bescheid geben.

Wir gehen nach dem Saale der Smalah, jenem nach Ellen gemessenen Bilde,
dessen treue Abspiegelung des materiellen Lebens ohne sichere Ständeauffassung
die Wonne der Bourgeois ausmacht. -- Nehmen wir ein Inventar der afrikanischen
Helden auf. -- On, n'culi-k pas, ruft uns ein galonirter Hüter zu. -- Der Saal
ist geschlossen, weil der Oberst der Versailler Nationalgarde, der berühmte Dampf-


Steno auf einen Tag zu entziehen. Zwei Freundinnen baten mich, sie nach Versailles
zu begleiten; wir wollten in dieser gemalten Geschichte Frankreichs blättern, und ans
der Vergangenheit Trost für die Zukunft schöpfen. Die ewige Kunst bleibt die
einzige Erhebung inmitten des allgemeinen Verfalls, dachten wir, und vielleicht
wenden wir uns nicht vergebens an ihren tröstenden Geist. Werden sie nun aber
die Kunst nicht auch in Belagerungszustand setzen? Wird die Reaction nicht diese
sprechenden Verheißungen ihres baldigen Endes unsren Augen entrücken wollen?
Fast scheint es so, die Censur, welche der Presse deu Maulkorb anlegt und dem
dramatischen Genius die Flügel stutzt, wird vor Michel Angelo nicht mehr Respect
haben. Wird es nöthig sein? Haben wir denn auch jenen ruhigen beschauenden
Sinn, welcher zum wirklichen Kunstgenüsse unerläßlich ist? Wenn unsre Seele
erbebt vor Erbitterung und Scham, wenn unsre Nerven erzittern unter der täg¬
lichen Erschütterung und Erniedrigung, sind ihre Eingänge, Auge und Ohr,
nicht verstellt, wie die Thore und Schranken dieses Landes von den Bayonetten
der siegenden Prätoriäner?

Sehen Sie nur Versailles an! Die Straßen leer, die Fenster geschlossen,
und hier und da erschallt der Pferdehuf einer dahinrennenden Ordonnanz, der
Tritt einer ab und zu gehenden Wache. Versailles ist eine große Caserne ge¬
worden, die Blüthe der buonapartistischen Schaaren, die Kürassiere und Cara-
biniers, haben hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen. Die abgeschnittenen Bäume mit
ihren Rococogestalten, die stummen Gebäude, die verkehrlose Welt, sie gemahnen
an den Tod, und die großen Placate an den Wänden scheinen uns von Blut
zu triefen, rothe Gespenster ziehen heulend durch die Luft, und sagen es uns ver¬
gebens, daß es ein kalter Herbstwind sei, der an unsrem Ohre vorüberbranst.
Treten wir in die Galerie. 'Wir suchen in dieser Sparbüchse des französischen
Ruhmes, wo die kleinste Berühmtheit, jede irgend bedeutende That sorgsam
niedergelegt wird, damit dem Capitale ja nichts entgehe, eine Berechtigung des
Helden der Tragikomödie, die jetzt im Elysve ^ abgespielt wird. Wir suchen die
Thaten der Mäuner, die sich vermessen haben, den persönlichen Ehrgeiz ihrer kleinen
Individualitäten für den Willen Frankreichs auszugeben. Wenden wir uns zu¬
nächst zur Verherrlichung der afrikanischen Großthaten,, durch die der Napoleon
des Friedens, Louis Philipp, der Anbetung seines Volkes für den Napoleon
des Krieges Rechnung getragen. Horace Vernet, der militairische Lebrun
des Bürgerkönigs, der jeden muthigen Chasseur, jedes tapfere Roß conterfeit,
kann nichts vergessen haben, er wird uns Bescheid geben.

Wir gehen nach dem Saale der Smalah, jenem nach Ellen gemessenen Bilde,
dessen treue Abspiegelung des materiellen Lebens ohne sichere Ständeauffassung
die Wonne der Bourgeois ausmacht. — Nehmen wir ein Inventar der afrikanischen
Helden auf. — On, n'culi-k pas, ruft uns ein galonirter Hüter zu. — Der Saal
ist geschlossen, weil der Oberst der Versailler Nationalgarde, der berühmte Dampf-


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[0081] Steno auf einen Tag zu entziehen. Zwei Freundinnen baten mich, sie nach Versailles zu begleiten; wir wollten in dieser gemalten Geschichte Frankreichs blättern, und ans der Vergangenheit Trost für die Zukunft schöpfen. Die ewige Kunst bleibt die einzige Erhebung inmitten des allgemeinen Verfalls, dachten wir, und vielleicht wenden wir uns nicht vergebens an ihren tröstenden Geist. Werden sie nun aber die Kunst nicht auch in Belagerungszustand setzen? Wird die Reaction nicht diese sprechenden Verheißungen ihres baldigen Endes unsren Augen entrücken wollen? Fast scheint es so, die Censur, welche der Presse deu Maulkorb anlegt und dem dramatischen Genius die Flügel stutzt, wird vor Michel Angelo nicht mehr Respect haben. Wird es nöthig sein? Haben wir denn auch jenen ruhigen beschauenden Sinn, welcher zum wirklichen Kunstgenüsse unerläßlich ist? Wenn unsre Seele erbebt vor Erbitterung und Scham, wenn unsre Nerven erzittern unter der täg¬ lichen Erschütterung und Erniedrigung, sind ihre Eingänge, Auge und Ohr, nicht verstellt, wie die Thore und Schranken dieses Landes von den Bayonetten der siegenden Prätoriäner? Sehen Sie nur Versailles an! Die Straßen leer, die Fenster geschlossen, und hier und da erschallt der Pferdehuf einer dahinrennenden Ordonnanz, der Tritt einer ab und zu gehenden Wache. Versailles ist eine große Caserne ge¬ worden, die Blüthe der buonapartistischen Schaaren, die Kürassiere und Cara- biniers, haben hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen. Die abgeschnittenen Bäume mit ihren Rococogestalten, die stummen Gebäude, die verkehrlose Welt, sie gemahnen an den Tod, und die großen Placate an den Wänden scheinen uns von Blut zu triefen, rothe Gespenster ziehen heulend durch die Luft, und sagen es uns ver¬ gebens, daß es ein kalter Herbstwind sei, der an unsrem Ohre vorüberbranst. Treten wir in die Galerie. 'Wir suchen in dieser Sparbüchse des französischen Ruhmes, wo die kleinste Berühmtheit, jede irgend bedeutende That sorgsam niedergelegt wird, damit dem Capitale ja nichts entgehe, eine Berechtigung des Helden der Tragikomödie, die jetzt im Elysve ^ abgespielt wird. Wir suchen die Thaten der Mäuner, die sich vermessen haben, den persönlichen Ehrgeiz ihrer kleinen Individualitäten für den Willen Frankreichs auszugeben. Wenden wir uns zu¬ nächst zur Verherrlichung der afrikanischen Großthaten,, durch die der Napoleon des Friedens, Louis Philipp, der Anbetung seines Volkes für den Napoleon des Krieges Rechnung getragen. Horace Vernet, der militairische Lebrun des Bürgerkönigs, der jeden muthigen Chasseur, jedes tapfere Roß conterfeit, kann nichts vergessen haben, er wird uns Bescheid geben. Wir gehen nach dem Saale der Smalah, jenem nach Ellen gemessenen Bilde, dessen treue Abspiegelung des materiellen Lebens ohne sichere Ständeauffassung die Wonne der Bourgeois ausmacht. — Nehmen wir ein Inventar der afrikanischen Helden auf. — On, n'culi-k pas, ruft uns ein galonirter Hüter zu. — Der Saal ist geschlossen, weil der Oberst der Versailler Nationalgarde, der berühmte Dampf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/81>, abgerufen am 13.05.2024.