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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Aeußerungen der öffentlichen Meinung, um so lauter sprechen die Thatsachen,
und es giebt in diesem Augenblicke kein Interesse, keinen Beruf, keine Klasse und
kein Talent, die nicht durch den zweiten December des zehnten Decembers ver¬
letzt wurden. Wer Paris kennt, der hat es auf den ersten Blick weg, daß
Frankreich krank ist und verzagt, und die guten Bourgeois, welche die Rente so
hinaustreiben sehen, allein können nicht begreifen, warum trotz Weihnachten und
trotz der rettenden That kein Käufer sich zeigen wolle. Diese Saison, welche
die Erntezeit und bei sehr vielen Handelszweigen die einzige Erntezeit ist, sieht
den Verkehr matt und ohne Leben, wie er selbst im December 1848 nicht gewesen.
Vergebens locken die unvergleichlichen Kunstwerke aller Industrien die coquetten
Pariserinnen in den Laden. Die Börse ihrer Mama hat den Starrkrampf, und
die Fünffrankenstücke bleiben fest eingeschlossen und versteckt, als ob Louis
Bnonaparte dem Communismus und den anderen ägyptischen Plagen der modernen
Ideen nicht ein radicales Ende gemacht hätte. Selbst die Konditoreien, die
sonst um diese Zeit nicht genug Süßigkeiten fabriciren können, stehen leer und
freuen sich so innig, daß der Präsident die Gesellschaft gerettet. Auch um unsren
jährlichen Spaß, die komischen Revuen in den Theatern, sind wir gekommen,
denn das, was im Montanster und in den VaritLtvs als jährliche Inventur der
Thorheiten und Sonderbarkeiten von 1851 gegeben wird, verdient kaum die
Aufmerksamkeit des Publicums, und erregt sie auch nicht. Die Londoner Aus¬
stellung, die Lingotlotterie und die Blomerism tragen fast ausschließlich die'Kosten
der vaudevillistischeu Satyre, und auch da dürfen die komischsten Seiten nicht berührt
werden, weil Buonaparte's Censur gar keinen Spaß versteht. Die Politik wird
von der Bühne gebannt, und da die Ausfälle auf den Socialismus und die
Republik durch deu Decembereinsall an Interesse verloren haben, bleibt den armen
Vaudevillisten gar kein Terrain für ihren Witz übrig. Die Schauspielerinnen
mit ihren abenteuerlichen Costümen sind die einzige Zugkraft dieser Studien, und
man rechnet darauf, daß dem Couplet sein Mangel an Witz vergeben werde,
ans Rücksicht für den kleinen Mund, der es singt. Auch die anderen Theater
sind bedeutungslos und der Berichterstatter hat nnr wenig darüber zu sagen. In
der Perle von Brasilien von Fvlicien David führt die Abwesenheit des Publicums
täglich die Wüste desselben Cvmpositeurs auf. In der komischen Oper fiel ein
musikalischer Blaubart durch, und die große Oper zehrt an einem Ballete, vert^
ver>., in dem eine hübsche Tänzerin, Fräulein Priora, einiges Glück gemacht.
Sonst giebt man daselbst blos alte Opern, und die Musikfreunde sehen mit Ungeduld
dem ersten Auftreten der Lagrue entgegen. Gestern wurde wieder einmal
Gounot's Sappho gegeben, es wurde ihr aber ein ganzer Act weggestrichen,
denn der Präsident der Republik hat eine solche Achtung vor der Konstitution,
daß er nicht einmal geheimnißvolle Verschwörungsscenen dulden will, selbst wenn
diese in Griechenland und im Alterthume spielen.


Grenzboten. I. ->8öZ. ',10.

Aeußerungen der öffentlichen Meinung, um so lauter sprechen die Thatsachen,
und es giebt in diesem Augenblicke kein Interesse, keinen Beruf, keine Klasse und
kein Talent, die nicht durch den zweiten December des zehnten Decembers ver¬
letzt wurden. Wer Paris kennt, der hat es auf den ersten Blick weg, daß
Frankreich krank ist und verzagt, und die guten Bourgeois, welche die Rente so
hinaustreiben sehen, allein können nicht begreifen, warum trotz Weihnachten und
trotz der rettenden That kein Käufer sich zeigen wolle. Diese Saison, welche
die Erntezeit und bei sehr vielen Handelszweigen die einzige Erntezeit ist, sieht
den Verkehr matt und ohne Leben, wie er selbst im December 1848 nicht gewesen.
Vergebens locken die unvergleichlichen Kunstwerke aller Industrien die coquetten
Pariserinnen in den Laden. Die Börse ihrer Mama hat den Starrkrampf, und
die Fünffrankenstücke bleiben fest eingeschlossen und versteckt, als ob Louis
Bnonaparte dem Communismus und den anderen ägyptischen Plagen der modernen
Ideen nicht ein radicales Ende gemacht hätte. Selbst die Konditoreien, die
sonst um diese Zeit nicht genug Süßigkeiten fabriciren können, stehen leer und
freuen sich so innig, daß der Präsident die Gesellschaft gerettet. Auch um unsren
jährlichen Spaß, die komischen Revuen in den Theatern, sind wir gekommen,
denn das, was im Montanster und in den VaritLtvs als jährliche Inventur der
Thorheiten und Sonderbarkeiten von 1851 gegeben wird, verdient kaum die
Aufmerksamkeit des Publicums, und erregt sie auch nicht. Die Londoner Aus¬
stellung, die Lingotlotterie und die Blomerism tragen fast ausschließlich die'Kosten
der vaudevillistischeu Satyre, und auch da dürfen die komischsten Seiten nicht berührt
werden, weil Buonaparte's Censur gar keinen Spaß versteht. Die Politik wird
von der Bühne gebannt, und da die Ausfälle auf den Socialismus und die
Republik durch deu Decembereinsall an Interesse verloren haben, bleibt den armen
Vaudevillisten gar kein Terrain für ihren Witz übrig. Die Schauspielerinnen
mit ihren abenteuerlichen Costümen sind die einzige Zugkraft dieser Studien, und
man rechnet darauf, daß dem Couplet sein Mangel an Witz vergeben werde,
ans Rücksicht für den kleinen Mund, der es singt. Auch die anderen Theater
sind bedeutungslos und der Berichterstatter hat nnr wenig darüber zu sagen. In
der Perle von Brasilien von Fvlicien David führt die Abwesenheit des Publicums
täglich die Wüste desselben Cvmpositeurs auf. In der komischen Oper fiel ein
musikalischer Blaubart durch, und die große Oper zehrt an einem Ballete, vert^
ver>., in dem eine hübsche Tänzerin, Fräulein Priora, einiges Glück gemacht.
Sonst giebt man daselbst blos alte Opern, und die Musikfreunde sehen mit Ungeduld
dem ersten Auftreten der Lagrue entgegen. Gestern wurde wieder einmal
Gounot's Sappho gegeben, es wurde ihr aber ein ganzer Act weggestrichen,
denn der Präsident der Republik hat eine solche Achtung vor der Konstitution,
daß er nicht einmal geheimnißvolle Verschwörungsscenen dulden will, selbst wenn
diese in Griechenland und im Alterthume spielen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/83>, abgerufen am 17.06.2024.