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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Wahn gehegt, in ihr den gestimmten Inhalt des giltigen Rechts aufzuheben. So
lange die Welt steht, hat überall der Grundsatz gegolten, daß ein nicht aufge¬
hobenes Gesetz Gesetz bleibt. Aber , eben so hat der Grundsatz gegolten, daß
man Gesetze aufheben könne, und daß im Laufe der historischen Entwickelung
neue Nechtssubjecte, neue Nechtsobjecte eintreten können. Wenn in früherer Zeit
diese Gesetzveränderung einseitig von den Obrigkeiten oder von teil Gerichten
oder von den ständischen Parlamenten ausging, so liegt in dem Umstand, daß
jetzt die Vertreter des Volkes dazu ihre Einwilligung geben müssen, jedenfalls kein
Moment der Ungesetzlichkeit. Es hat zu allen Zeiten Perioden gegeben, in denen
der Proceß der Nechtsschöpfuug schleimiger und concentrirter vor sich ging, als
zu anderen Perioden. Will man eine solche Periode eine revolutionäre nennen,
so ist Nichts dagegen zu sagen, wenn man nur damit nicht einen Makel auf
ihre Stiru drücken will. Jedenfalls ist diese Beschleunigung der Entwickelung
keine Erfindung von 1789. Was uns die Alten über Lykurg, über Solon, über
die Decemviralverfassnng ?c. berichten, mag es uun streng historisch oder theil¬
weise mythisch sein, zeigt wenigstens, daß das Alterthum über das, was Sie heute
Revolution nennen, vollkommen unterrichtet war und es theilweise billigte. Hat
ja doch das praktische Volk der Engländer schon im 13. Jahrhundert sich seine
Rechte in einem beschriebenen Papier feststellen lassen, und diesem im Jahre 1689
ein zweites beschriebenes Papier hinzugefügt. Daß diese Bewegung von den
Aristokraten ausging, macht sie in unsren Augen nicht sittlicher.

Wir betrachten die Charte weder als den Anfang, noch als das Ende der
geschichtlichen Entwickelung, wir betrachten sie aber als einen wichtigen Abschnitt,
als eine Basis, auf der der weitere Proceß der Staatsgewalten mit Ordnung
geführt werdeu kann.

Sechstens. "Die Revolution fordert die Aufhebung aller erworbenen
Rechte für das Volkswohl." -- Und das sagen Sie, der Anwalt der rettende"
Thaten, Sie, der Führer einer Partei, die in jedem Augenblick die höhere Rück¬
sicht der Staatsräson über Wort und Handschlag gestellt hat! -- Ich weiß nicht
recht, ob dieser Zug bei Ihnen Schlauheit oder Naivetät ist. Sie haben in
Ihrer ganzen bisherigen Deduction niemals darauf hingedeutet, daß mit dem
Begriff der Revolution d-le gewaltsame, d.h. ungesetzliche Aufhebung der bis¬
her bestehenden Rechtsverhältnisse verbunden sei. Jetzt schieben Sie diese Ansicht
durch einen beiläufigen Zwischengedanken ein und bemerken nicht, daß Sie da¬
durch einen ganz neuen Gesichtspunkt aufstellen. Aber in dem Begriff und Wesen des
Liberalismus liegt es keineswegs, daß er seinen Ansichten über die Einrichtung des
Staats mit Gewalt Bahn brechen will, er bemüht sich im Gegentheil, gerade wie
sich das Christenthum bemüht hat, alle Welt so mit seinen Ideen zu erfüllen,
daß sie ohne Kampf und Streit zur .Wirklichkeit werden. Daß in diesem Falle
unter Beobachtung der gesetzlichen Formen das sogenannte Privateigenthum kein


Wahn gehegt, in ihr den gestimmten Inhalt des giltigen Rechts aufzuheben. So
lange die Welt steht, hat überall der Grundsatz gegolten, daß ein nicht aufge¬
hobenes Gesetz Gesetz bleibt. Aber , eben so hat der Grundsatz gegolten, daß
man Gesetze aufheben könne, und daß im Laufe der historischen Entwickelung
neue Nechtssubjecte, neue Nechtsobjecte eintreten können. Wenn in früherer Zeit
diese Gesetzveränderung einseitig von den Obrigkeiten oder von teil Gerichten
oder von den ständischen Parlamenten ausging, so liegt in dem Umstand, daß
jetzt die Vertreter des Volkes dazu ihre Einwilligung geben müssen, jedenfalls kein
Moment der Ungesetzlichkeit. Es hat zu allen Zeiten Perioden gegeben, in denen
der Proceß der Nechtsschöpfuug schleimiger und concentrirter vor sich ging, als
zu anderen Perioden. Will man eine solche Periode eine revolutionäre nennen,
so ist Nichts dagegen zu sagen, wenn man nur damit nicht einen Makel auf
ihre Stiru drücken will. Jedenfalls ist diese Beschleunigung der Entwickelung
keine Erfindung von 1789. Was uns die Alten über Lykurg, über Solon, über
die Decemviralverfassnng ?c. berichten, mag es uun streng historisch oder theil¬
weise mythisch sein, zeigt wenigstens, daß das Alterthum über das, was Sie heute
Revolution nennen, vollkommen unterrichtet war und es theilweise billigte. Hat
ja doch das praktische Volk der Engländer schon im 13. Jahrhundert sich seine
Rechte in einem beschriebenen Papier feststellen lassen, und diesem im Jahre 1689
ein zweites beschriebenes Papier hinzugefügt. Daß diese Bewegung von den
Aristokraten ausging, macht sie in unsren Augen nicht sittlicher.

Wir betrachten die Charte weder als den Anfang, noch als das Ende der
geschichtlichen Entwickelung, wir betrachten sie aber als einen wichtigen Abschnitt,
als eine Basis, auf der der weitere Proceß der Staatsgewalten mit Ordnung
geführt werdeu kann.

Sechstens. „Die Revolution fordert die Aufhebung aller erworbenen
Rechte für das Volkswohl." — Und das sagen Sie, der Anwalt der rettende»
Thaten, Sie, der Führer einer Partei, die in jedem Augenblick die höhere Rück¬
sicht der Staatsräson über Wort und Handschlag gestellt hat! — Ich weiß nicht
recht, ob dieser Zug bei Ihnen Schlauheit oder Naivetät ist. Sie haben in
Ihrer ganzen bisherigen Deduction niemals darauf hingedeutet, daß mit dem
Begriff der Revolution d-le gewaltsame, d.h. ungesetzliche Aufhebung der bis¬
her bestehenden Rechtsverhältnisse verbunden sei. Jetzt schieben Sie diese Ansicht
durch einen beiläufigen Zwischengedanken ein und bemerken nicht, daß Sie da¬
durch einen ganz neuen Gesichtspunkt aufstellen. Aber in dem Begriff und Wesen des
Liberalismus liegt es keineswegs, daß er seinen Ansichten über die Einrichtung des
Staats mit Gewalt Bahn brechen will, er bemüht sich im Gegentheil, gerade wie
sich das Christenthum bemüht hat, alle Welt so mit seinen Ideen zu erfüllen,
daß sie ohne Kampf und Streit zur .Wirklichkeit werden. Daß in diesem Falle
unter Beobachtung der gesetzlichen Formen das sogenannte Privateigenthum kein


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[0137] Wahn gehegt, in ihr den gestimmten Inhalt des giltigen Rechts aufzuheben. So lange die Welt steht, hat überall der Grundsatz gegolten, daß ein nicht aufge¬ hobenes Gesetz Gesetz bleibt. Aber , eben so hat der Grundsatz gegolten, daß man Gesetze aufheben könne, und daß im Laufe der historischen Entwickelung neue Nechtssubjecte, neue Nechtsobjecte eintreten können. Wenn in früherer Zeit diese Gesetzveränderung einseitig von den Obrigkeiten oder von teil Gerichten oder von den ständischen Parlamenten ausging, so liegt in dem Umstand, daß jetzt die Vertreter des Volkes dazu ihre Einwilligung geben müssen, jedenfalls kein Moment der Ungesetzlichkeit. Es hat zu allen Zeiten Perioden gegeben, in denen der Proceß der Nechtsschöpfuug schleimiger und concentrirter vor sich ging, als zu anderen Perioden. Will man eine solche Periode eine revolutionäre nennen, so ist Nichts dagegen zu sagen, wenn man nur damit nicht einen Makel auf ihre Stiru drücken will. Jedenfalls ist diese Beschleunigung der Entwickelung keine Erfindung von 1789. Was uns die Alten über Lykurg, über Solon, über die Decemviralverfassnng ?c. berichten, mag es uun streng historisch oder theil¬ weise mythisch sein, zeigt wenigstens, daß das Alterthum über das, was Sie heute Revolution nennen, vollkommen unterrichtet war und es theilweise billigte. Hat ja doch das praktische Volk der Engländer schon im 13. Jahrhundert sich seine Rechte in einem beschriebenen Papier feststellen lassen, und diesem im Jahre 1689 ein zweites beschriebenes Papier hinzugefügt. Daß diese Bewegung von den Aristokraten ausging, macht sie in unsren Augen nicht sittlicher. Wir betrachten die Charte weder als den Anfang, noch als das Ende der geschichtlichen Entwickelung, wir betrachten sie aber als einen wichtigen Abschnitt, als eine Basis, auf der der weitere Proceß der Staatsgewalten mit Ordnung geführt werdeu kann. Sechstens. „Die Revolution fordert die Aufhebung aller erworbenen Rechte für das Volkswohl." — Und das sagen Sie, der Anwalt der rettende» Thaten, Sie, der Führer einer Partei, die in jedem Augenblick die höhere Rück¬ sicht der Staatsräson über Wort und Handschlag gestellt hat! — Ich weiß nicht recht, ob dieser Zug bei Ihnen Schlauheit oder Naivetät ist. Sie haben in Ihrer ganzen bisherigen Deduction niemals darauf hingedeutet, daß mit dem Begriff der Revolution d-le gewaltsame, d.h. ungesetzliche Aufhebung der bis¬ her bestehenden Rechtsverhältnisse verbunden sei. Jetzt schieben Sie diese Ansicht durch einen beiläufigen Zwischengedanken ein und bemerken nicht, daß Sie da¬ durch einen ganz neuen Gesichtspunkt aufstellen. Aber in dem Begriff und Wesen des Liberalismus liegt es keineswegs, daß er seinen Ansichten über die Einrichtung des Staats mit Gewalt Bahn brechen will, er bemüht sich im Gegentheil, gerade wie sich das Christenthum bemüht hat, alle Welt so mit seinen Ideen zu erfüllen, daß sie ohne Kampf und Streit zur .Wirklichkeit werden. Daß in diesem Falle unter Beobachtung der gesetzlichen Formen das sogenannte Privateigenthum kein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/137>, abgerufen am 15.06.2024.