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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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gewandert ist "ut dessen Gemahl mehrere Jahre abwesend war, wird schwanger
und zur Strafe einer Art Brandmarkung unterworfen. Man zwingt sie nämlich,
als Zeichen ihrer Schande einen rothen Buchstaben aus der Brust zu tragen.
Mit diesem wird sie zuerst einige Stunden am Pranger öffentlich ausgestellt, und
dann zieht sie sich in ein einsames, entlegenes Haus zurück, wo sie als eine Aus¬
sätzige von aller Welt gemieden wird. Der Mann, der mit ihr gesündigt Hat,
ein junger, im allgemeinen Geruch der Heiligkeit stehender Geistlicher, wird weder
von ihr angegeben, noch hat er den Muth, sich selber zu nennen. Die Aufgabe
des Romans ist nun, nachzuweisen, was dieses Zeichen der allgemeinen Mi߬
achtung auf die Gemüther aller Betheiligten für einen Einfluß ausübt. Als han¬
delnd treten uur vier Personen auf: Hefter, der junge Geistliche, ihr Kind
Perle, und ihr eigentlicher Gemahl Roger Chillingworth, der gerade in dem
Augenblicke zurückkommt, als seine Gattin am Pranger steht. Am interessantesten
ist die Einwirkung aus den jungeu Geistliche" durchgeführt, der zwar nicht den
Entschluß fassen kann, seine Schande öffentlich zu bekennen, aber zu den seltsam¬
sten Mitteln getrieben wird, den quälenden Gedanken seiner Schuld von sich ab¬
zuschütteln. Er hat insgeheim jenen Scharlachbnchstaben in seine Brust eingeätzt,
er stellt sich einmal des Nachts auf eben jenen Pranger, auf dem seiue Geliebte
den Augen der Menge ausgestellt war , und thut dort gleichsam Buße. Diese
Scene ist mit einer hinreißenden Energie ausgeführt. Einmal beschließt er, mit
Hehler zu entfliehen, aber das Gewissen hält ihn zurück, er stirbt, indem er seine
Schande öffentlich eingesteht. Es sind in diesem Gemälde so wunderbare Züge
von psychologischer Feinheit, daß man nicht blos übe-rrascht, sondern auch über¬
zeugt wird. -- Die Einwirkung des Buchstabens auf die drei anderen Personen ist
mit weniger Glück durchgeführt. Wir werden zwar in eine Reihe interessanter
und scharf belebter Stimmungen eingeführt, aber über den innern Zusammenhang
nicht aufgeklärt. Hehler und Roger habe" in ihrer Anlage etwas Abstractes,
lediglich ans der Idee Hergeleitetes. Eine sehr kühne' Conception dagegen ist
die Gestalt der kleinen Perle, eines koboldartigen Wesens, in welchem der Schar¬
lachbuchstabe gleichsam Fleisch gewinnt, und ans eine seltsame, nicht ganz.klare,
aber zuweilen sehr poetische Weise sich in Leben und Bewegung setzt. -- Der
Roman hat, wie alle anderen von Hawthorne, eine moralische Tendenz. Der
Dichter geht überall von allgemeinen sittlichen Ideen ans, oder sucht wenigstens
darauf hinzuarbeiten; es ist aber bezeichnend für ihn, daß er ans die Frage die
Antwort schuldig bleibt. Ist die Ehrenstrafe heilbringend für ein nicht ganz ver¬
dorbenes Gemüth oder nicht? Wir erfahren es nicht. Die Geschichte ist so indi¬
viduell gehalten, daß wir keine Anwendung daraus herleiten können, und doch
spielt wieder das Allgemeine so lebhaft hinein, daß die Individualität an sich
nicht in hinreichend klaren Umrissen gezeichnet wird. Was aber an der eigent¬
lichen Anlage des Romans mangelhaft ist, dasür wird man entschädigt durch die
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gewandert ist »ut dessen Gemahl mehrere Jahre abwesend war, wird schwanger
und zur Strafe einer Art Brandmarkung unterworfen. Man zwingt sie nämlich,
als Zeichen ihrer Schande einen rothen Buchstaben aus der Brust zu tragen.
Mit diesem wird sie zuerst einige Stunden am Pranger öffentlich ausgestellt, und
dann zieht sie sich in ein einsames, entlegenes Haus zurück, wo sie als eine Aus¬
sätzige von aller Welt gemieden wird. Der Mann, der mit ihr gesündigt Hat,
ein junger, im allgemeinen Geruch der Heiligkeit stehender Geistlicher, wird weder
von ihr angegeben, noch hat er den Muth, sich selber zu nennen. Die Aufgabe
des Romans ist nun, nachzuweisen, was dieses Zeichen der allgemeinen Mi߬
achtung auf die Gemüther aller Betheiligten für einen Einfluß ausübt. Als han¬
delnd treten uur vier Personen auf: Hefter, der junge Geistliche, ihr Kind
Perle, und ihr eigentlicher Gemahl Roger Chillingworth, der gerade in dem
Augenblicke zurückkommt, als seine Gattin am Pranger steht. Am interessantesten
ist die Einwirkung aus den jungeu Geistliche» durchgeführt, der zwar nicht den
Entschluß fassen kann, seine Schande öffentlich zu bekennen, aber zu den seltsam¬
sten Mitteln getrieben wird, den quälenden Gedanken seiner Schuld von sich ab¬
zuschütteln. Er hat insgeheim jenen Scharlachbnchstaben in seine Brust eingeätzt,
er stellt sich einmal des Nachts auf eben jenen Pranger, auf dem seiue Geliebte
den Augen der Menge ausgestellt war , und thut dort gleichsam Buße. Diese
Scene ist mit einer hinreißenden Energie ausgeführt. Einmal beschließt er, mit
Hehler zu entfliehen, aber das Gewissen hält ihn zurück, er stirbt, indem er seine
Schande öffentlich eingesteht. Es sind in diesem Gemälde so wunderbare Züge
von psychologischer Feinheit, daß man nicht blos übe-rrascht, sondern auch über¬
zeugt wird. — Die Einwirkung des Buchstabens auf die drei anderen Personen ist
mit weniger Glück durchgeführt. Wir werden zwar in eine Reihe interessanter
und scharf belebter Stimmungen eingeführt, aber über den innern Zusammenhang
nicht aufgeklärt. Hehler und Roger habe» in ihrer Anlage etwas Abstractes,
lediglich ans der Idee Hergeleitetes. Eine sehr kühne' Conception dagegen ist
die Gestalt der kleinen Perle, eines koboldartigen Wesens, in welchem der Schar¬
lachbuchstabe gleichsam Fleisch gewinnt, und ans eine seltsame, nicht ganz.klare,
aber zuweilen sehr poetische Weise sich in Leben und Bewegung setzt. — Der
Roman hat, wie alle anderen von Hawthorne, eine moralische Tendenz. Der
Dichter geht überall von allgemeinen sittlichen Ideen ans, oder sucht wenigstens
darauf hinzuarbeiten; es ist aber bezeichnend für ihn, daß er ans die Frage die
Antwort schuldig bleibt. Ist die Ehrenstrafe heilbringend für ein nicht ganz ver¬
dorbenes Gemüth oder nicht? Wir erfahren es nicht. Die Geschichte ist so indi¬
viduell gehalten, daß wir keine Anwendung daraus herleiten können, und doch
spielt wieder das Allgemeine so lebhaft hinein, daß die Individualität an sich
nicht in hinreichend klaren Umrissen gezeichnet wird. Was aber an der eigent¬
lichen Anlage des Romans mangelhaft ist, dasür wird man entschädigt durch die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/439>, abgerufen am 15.06.2024.